Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 142

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kommenden Kreise Ihres Bezirks sofort zu informieren und für dessen entschiedene Durchführung unter allen Umständen einzutreten.“[1]

Und in 15 von 16 Wahlkreisen wird diese dringende Anweisung der obersten Behörde von den Genossen gleich nach dem ersten Stichwahltag ignoriert, entgegen aller Disziplin mißachtet. Nun aber kommt der offizielle Verteidiger des Vorstands und führt gerade jenen Disziplinbruch als den einzigen mildernden Umstand für die vom Vorstand eingeschlagene Taktik ins Feld! Ist das nicht die gefährlichste Predigt des Disziplinbruchs, ist das nicht die Übertragung der Sitten unsrer „Geschäftsfreunde“, der Fortschrittler, auf unser Parteileben? Und wie steht die Partei heute, angesichts solcher Vorgänge, den badischen und bayrischen Genossen gegenüber da, die sie in der Frage der Budgetbewilligung[2] mit dem Appell an die heilige Pflicht der Disziplin, auch wo sie noch so schwer gegen die eigne Überzeugung der einzelnen drängt, als mit der schwersten Waffe bekämpft hat? Es genügt, sich diese Fragen zu stellen, um klar einzusehen, wie sehr eine derartige Taktik in ihren weiteren Konsequenzen gegen die Lebensinteressen der Partei verstößt.

Aber der Gewährsmann des Vorstands geht noch weiter in seiner Verurteilung. Neben der „Dämpfung“ in 16 Wahlkreisen war es die Heimlichkeit des Abkommens, was wir am schärfsten kritisierten. Und auch diesen Punkt gibt der anonyme Artikel im „Vorwärts“ ohne weiteres preis:

„Und ebensowenig am Platze war die Heimlichkeit, mit der das Abkommen eine Zeitlang behandelt wurde. Gewiß sind vertrauliche Besprechungen in solcher Situation nicht zu umgehen, und es geht nicht an, Mitteilungen oder Verhandlungen, die ein Dritter im Vertrauen mit uns gepflogen, ohne seine Zustimmung aller Welt mitzuteilen.

Aber die Ergebnisse solcher Abmachungen, sobald sie Aktionen unsrer Parteipresse bedingen, müssen ihr mitgeteilt werden. Unsre Partei kann und darf keine Verpflichtungen eingehen, die sie nicht selbst nachzuprüfen vermag. Sollten die Fortschrittler Grund gehabt haben, zu wünschen, daß das ganze Abkommen ein Geheimnis bleibe, dann durfte es überhaupt nicht abgeschlossen werden. So nützlich uns das Abkommen

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[1] Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. IV, Berlin 1967, S. 395.

[2] Unter Mißachtung der Grundsätze und Beschlüsse der Sozialdemokratischen Partei hatte die sozialdemokratische Fraktion des bayrischen Landtags am 13. August 1908 und die des badischen Landtags am 12. August 1908 wie auch am 14. Juli 1910 dem Landesbudget zugestimmt.