Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 129

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gesprochen, daß uns die sogenannte Niederlage von 1907 so überaus gut bekommen ist. Wir wachsen aus jeder Niederlage zehnmal stärker heraus. Heute stehen wir vor einer gefährlichen Probe. Nun haben wir zu zeigen, daß wir auch Siege zu ertragen wissen. Am 12. Januar haben 41/4 Millionen deutscher Proletarier der Sozialdemokratie ihr Vertrauen ausgedrückt. Die deutsche Sozialdemokratie hat damit ein sehr wichtiges Mandat bekommen, sie hat sich jetzt würdig zu zeigen des Vertrauens der Massen. Wir haben die Pflicht, nach diesem gewaltigen Siege zu zeigen, wie man handelt, um parlamentarische Siege richtig auszunutzen. Wir haben vor allem zu zeigen, wie man die Waffe des Parlamentarismus mit den Grundsätzen des revolutionären Klassenkampfes vereinigen kann. Von diesem Standpunkte aus haben wir die Pflicht, mit unerbittlicher Schärfe unsre eigene Taktik seit den Tagen des 12. Januar nachzuprüfen. Das erste, was einer Prüfung unterliegen soll: die Stichwahltaktik des Parteivorstandes.

Zwischen unserem Parteivorstand und der Fortschrittlichen Volkspartei ist es gleich nach dem großartigen Siege des 12. Januar zu einem bestimmten formellen Abkommen in bezug auf die Stichwahlen[1] gekommen. Ich werde nur die Punkte dieses Abkommens herausgreifen, die besonders unsere Kritik herausfordern. Ich werde mich dabei nicht einlassen auf die Untersuchung der Frage, ob ein Abkommen in bezug auf Stichwahlen zwischen der Sozialdemokratie und den Liberalen stattzufinden hatte oder nicht. Solche allgemeinen theoretischen Untersuchungen sind wichtig und nützlich, solange sie noch im Bereiche der Theorie bleiben. Jetzt haben wir zunächst ein konkretes Abkommen zu prüfen. Der Parteivorstand hat sich gesagt, er dürfe die große Macht, die uns mit den 41/4 Millionen Stimmen zugestellt war, nicht ungenutzt lassen, um weitere Erfolge praktischer Natur zu erringen. Es war sein Bestreben, soviel wie möglich Mandate für uns bei den Stichwahlen zu retten. Er hat sich auch vorgenommen, die Politik so zu leiten, um womöglich den Schwarz-Blauen Block[2] in die Minderheit zu bringen. Das waren seine Gründe, die der Parteivorstand in vertraulicher Weise der Parteipresse mitgeteilt hat. Jawohl, in vertraulicher Weise. Sie wußten nichts von dem Abkommen. Es war nur ein kleines Häuflein von Genossen, die von dem Abkommen wußten. Die große Masse hat nichts davon erfahren. Das ist der erste Punkt, den ich in schärfster Weise kritisieren möchte. Es ist unerlaubt in der sozialdemokratischen Partei, hinter dem Rücken der großen Masse irgendeine Politik zu treiben. („Sehr richtig!“) Die Stichwahlen werden

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[1] Siehe S. 91, Fußnote 3.

[2] Siehe S. 65, Fußnote 2.