Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 127

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-3/seite/127

Reifegrad die kapitalistische Entwicklung in Deutschland gekommen ist. Erinnern Sie sich der eigentümlichen Nachrichten, die Sie im vergangenen Sommer von den verschiedensten Seiten zu lesen bekamen. Da kamen Nachrichten aus Frankreich, daß in den großen Städten die Arbeiterschaft, voran die Frauen mit den Kindern auf den Armen, auf die Straße gingen und vor Hunger Krawalle gemacht haben. Solche Nachrichten kamen auch aus Belgien und England, sie kamen auch schließlich aus Wien, aus dem gemütlichen Wien, wo die liebenswürdigsten Verhältnisse zwischen Polizei und Einwohnerschaft bestehen. Dort wurden auf die hungernden Massen die ersten Schüsse abgegeben.[1] (Pfuirufe.) Wenn ich sage, es seien merkwürdige Symptome, so ist damit nicht ausgesprochen, daß der Hunger eine Ausnahmeerscheinung der kapitalistischen Gesellschaft ist. Was wir im vergangenen Jahre erlebten, war keine Krise, für die die arbeitenden Massen immer die Kosten zu tragen haben, sondern wir erleben seit ein paar Jahren eine zunehmende Hochkonjunktur des Kapitalismus, das heißt, wir leben in einer Zeit, wo der Kapitalist die glänzendsten Geschäfte macht. Und während dieser Zeit mußten die Massen der Arbeiterschaft auf die Straße steigen und gegen den Hunger demonstrieren. Das sind Erscheinungen, die wir früher nicht erlebt haben. Das ist ein Beweis, daß die kapitalistische Ausbeutung eine noch nie dagewesene Höhe erreicht hat.

Es gibt noch eine Erscheinung, die nur genannt zu werden braucht, um uns zugleich eine Menge von Zusammenhängen politischer und internationaler Natur vor die Augen zu rufen, um uns zu zeigen, wohin der Kurs der bürgerlichen Gesellschaft geht. Ich meine das Überhandnehmen des Imperialismus. Die Marokkoaffäre[2] hat gezeigt, daß Deutschland sich mit einem Panthersprung in die uferlosen Gefahren des Imperialismus gestürzt hat. Man hat uns verlacht und verhöhnt, weil wir der sogenannten Katastrophentheorie huldigen. Erleben wir nicht jetzt eine kapitalistische Katastrophenpraxis? Leben wir nicht in einer Zeit, wo der Weltkrieg zu einer zunehmenden Gefahr geworden ist? In Deutschland selbst hat die kleine Marokkoaffäre wie ein Erdbeben gewirkt. Wenn sich die Bethmann Hollweg, Kiderlen-Wächter hinstellten und sagten, daß sie und der deutsche Kaiser diejenigen gewesen seien, die im letzten Moment den Frieden erhalten hätten, so wissen wir, was von diesem Gerede zu halten ist. Wir kennen die Friedensengel auf den Thronen. Wenn die Gefahren des Krieges noch im letzten Moment beseitigt wur-

Nächste Seite »



[1] Siehe S. 59, Fußnote 1.

[2] Siehe S. 5, Fußnote 1.