Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 125

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Wahlsieg eine neue Epoche der Weltgeschichte erwarten. Wir stehen in der Einschätzung der parlamentarischen Siege auf grundsätzlich anderem Boden als die gesamte bürgerliche Welt. Erinnern Sie sich der Wahlen des Jahres 1907[1]. Sie wurden in der ganzen Welt ausposaunt als eine eklatante Niederlage der Sozialdemokratie. Wir hatten etwa die Hälfte unsrer Mandate verloren. Das war vom Standpunkt des bürgerlichen Parlamentarismus eine regelrechte Niederlage. Es ist richtig, für die bürgerlichen Parteien bedeuten Mandatsverluste eine politische Niederlage für die Partei. Und bei uns? Was hat sich herausgestellt nach der „Niederlage“ von 1907? Ihnen, da Sie selbst im Feuer gestanden haben, brauche ich nicht zu sagen, daß wir niemals so mächtig geworden sind wie nach der sogenannten Niederlage von 1907. („Sehr richtig!“) Da hat sich herausgestellt, daß Mandatsverluste für uns etwas ganz anderes bedeuten als für die bürgerlichen Parteien. Niemals ist unsere Organisation so in die Breite und Tiefe gegangen wie nach 1907, niemals wurde unsere Presse so ausgebaut und verbreitet, und man kann sagen, ohne die Niederlage des Jahres 1907 wäre nicht der herrliche Sieg des Jahres 1912 gekommen. (Lebhafte Zustimmung.) Und so können wir denn den Schluß ziehen: Die Wurzeln unserer Macht liegen nicht allein in den parlamentarischen Kämpfen, sie kommen nicht allein dadurch unverfälscht zum Ausdruck. Es stellt sich vielmehr heraus, daß die Wurzeln unserer Macht tiefer stecken als in den parlamentarischen Errungenschaften. Was sind die allgemeinen Wurzeln unserer Kraft? Es sind immer dieselben Grundlagen der Klassengesellschaft mit ihrer Ausbeutung und Unterdrückung und ihren sich verschärfenden Klassengegensätzen. Es bleibt immer wahr, was Marx und Engels vor mehr als 60 Jahren formuliert haben als das Grundgesetz der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft: Die kapitalistische Gesellschaft ist nicht imstande, einen Schritt vorwärts zu tun, ohne daß gleichzeitig ihre Totengräber vorwärtsschreiten in der Erkenntnis ihrer Macht. So schreiten wir als die Totengräber der kapitalistischen Gesellschaft dank den Siegen im Parlament von einer Etappe zur anderen bis zum endgültigen Siege des Sozialismus.

Was waren nun die näheren Umstände, denen wir den Sieg des 12. Januar verdanken? Es ist außerordentlich wichtig, sich immer wieder zum Bewußtsein zu bringen, woher wir die Kraft schöpfen, damit wir uns keinen Illusionen hingeben. Die Verschärfung der Klassengegensätze und der Ausbeutung in der kapitalistischen Gesellschaft, haben wir sie nicht schärfer zu spüren bekommen in den fünf Jahren von 1907 bis 1912?

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[1] Siehe S. 7, Fußnote 2.