Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 451

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rüstung dürfen wir glauben, daß durch die Mitdeckung der Mittel für Rüstungsvorlagen die Rüstungswut der herrschenden Klasse herabgemindert werden könne. England beweist doch am besten das Gegenteil. Heute ist der Imperialismus nicht nur eine Art der auswärtigen Politik, heute ist er die Religion der bürgerlichen Gesellschaft. Ein imperialistischer Taumel hat die ganze bürgerliche Gesellschaft gepackt. Deshalb ist auch jede Opposition gegen die Regierung und gegen die Junker und Scharfmacher verschwunden. Dieser Taumel ist eine Ursache des Niederganges des Parlamentarismus. Die wichtigsten Vorgänge der auswärtigen Politik sind gemacht ohne den Reichstag. Es sei geradezu ein Hohn gewesen, als im Mai 1913 sich auch bürgerliche Abgeordnete zu der deutsch-französischen Verständigungskonferenz in Bern zusammengefunden hätten.[1] Kaum zurückgekehrt, haben diese Herren für die große Militärvorlage[2] gekämpft und gestimmt. Nach welchen Mitteln sollen wir nun im Kampfe gegen den Imperialismus greifen? Von dem englischen Genossen Keir Hardie und einigen anderen ist vorgeschlagen, im Falle eines europäischen Krieges einen Massenstreik zu inszenieren. Es wird nicht gehen, daß sich der internationale Kongreß hierauf festlegt, aber es kann beschlossen werden, daß wir in dieser Richtung zu wirken haben. Vor allen Dingen aber ist es erforderlich, die Aktionsfähigkeit der Massen zu steigern. Dazu gehöre erstens die Verbreitung vollkommener Klarheit über die Sachlage und die Konsequenzen der Entwicklung. Es muß den Massen zum Bewußtsein gebracht werden, daß sie selbst ihr Schicksal zu bestimmen haben. Wir dürfen auf keine Hilfe des Bürgertums bauen. Zweitens ist eine gewisse Korrektur auch in den Organisationsverhältnissen erforderlich. Es muß eine stärkere Demokratisierung des ganzen Parteilebens und auch des Gewerkschaftslebens eintreten. Drittens müssen wir wieder etwas mehr Selbstkritik üben und nicht wie unser Zentralorgan ewig in Zufriedenheit uns gefallen. Die oberste Aufgabe auch im Kampfe gegen den Imperialismus ist die Steigerung der Aktionsfähigkeit der Massen.

Vorwärts (Berlin),

Nr. 137 vom 21. Mai 1914.

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[1] Am 11. Mai 1913 hatte in Bern eine Verständigungskonferenz von 156 deutschen und französischen Parlamentariern stattgefunden, auf der die deutsche Sozialdemokratie durch 24 Abgeordnete vertreten war. Einstimmig war eine Resolution angenommen worden, die den Chauvinismus verurteilte und erklärte, daß die überwiegende Mehrheit des deutschen wie des französischen Volkes den Frieden will und die Beilegung der internationalen Konflikte durch Schiedsgerichte fordert.

[2] Ende März 1913 war im Reichstag eine Militär- und Deckungsvorlage eingebracht worden, die die größte Heeresverstärkung seit Bestehen des Deutschen Reiches vorsah. Ein Teil der zusätzlichen finanziellen Mittel sollte durch einen außerordentlichen Wehrbeitrag und durch Besteuerung aller Vermögen über 10 000 Mark aufgebracht, der übrige Teil auf die Schultern der werktätigen Bevölkerung abgewälzt werden. Am 30. Juni wurde die Militär- und Deckungsvorlage im Reichstag angenommen. Die sozialdemokratische Fraktion lehnte die Militärvorlage ab, stimmte aber einer einmaligen Vermögensabgabe [dem sogenannten Wehrbeitrag] und einer Vermögenszuwachssteuer zur Finanzierung der Heeresvorlage zu. Der Abstimmung waren scharfe Auseinandersetzungen in der Fraktion vorausgegangen, die damit endeten, daß mit Verweis auf die Fraktionsdisziplin der Widerstand von 37 Abgeordneten unterdrückt wurde. Diese Zustimmung zu den Gesetzen bedeutete das Aufgeben des Grundsatzes „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!“