Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 3, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2003, S. 118

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aus Gehorsam gegen die vielfach gar nicht verbreitete Parole von oben es getan, sondern aus Abneigung gegen die reaktionäre Wirtschaft der Schwarzblauen. Ohne das Abkommen hätten sie wahrscheinlich ebenso gehandelt, denn eine allgemeine Hetze gegen die Sozialdemokratie, eine patriotische Hurrastimmung wie im Jahre 1907 war diesmal durch die Situation von vornherein ausgeschlossen. Dieselbe widerspruchsvolle Zusammensetzung der liberalen Wählermassen, die das Abkommen zwischen unserm Parteivorstand und der Fortschrittspartei durchbrochen hat, hätte auch ohne dasselbe die Zersplitterung der fortschrittlichen Wähler bewirkt.

Allein, nehmen wir für einen Augenblick an, wir hätten tatsächlich ohne das Abkommen mit den Fortschrittlern etwa 15–20 Mandate weniger erhalten. Jeder von uns freute sich aufrichtig in dem Augenblick, wo die stolze Zahl von 110 Abgeordneten in den Reichstag Einzug hielt, wo die Verfemten und „Niedergerittenen“ von 1907 als die stärkste Fraktion aufmarschierten. Doch von solchen augenblicklichen Empfindungen der Genugtuung dürfen wir uns nicht den Blick für reale Machtverhältnisse trüben lassen. Unser wirklicher Sieg und unsre wirkliche Macht liegen in den 41/4 Millionen Wählern, die uns die Hauptwahl gebracht hatte, und es ist lediglich der Druck dieser Massen von draußen, der unsrer Fraktion im Reichstag ihr Gewicht verleiht, ob die Fraktion um 20 Mann größer oder kleiner ist. Wollte der Parteivorstand den großartigen Sieg des 12. Januar sofort zu einer gebührenden Machtentfaltung ausnutzen – und man hätte allen Grund, sich über eine solche Tatkraft der Führung zu freuen –, so war die gebotene Taktik naheliegend genug! Nicht in einer geschäftigen Jagd nach Mandaten durch ein Techtelmechtel mit dem Liberalismus, sondern durch einen sofortigen Appell zu Massenaktionen größten Stils im ganzen Lande für die Eroberung des preußischen Wahlrechts, für den Achtstundentag, für die Einführung des Milizsystems – so wäre der Wahlsieg zur Machtstärkung des Proletariats und zugleich unsrer Position im Reichstag in der einzig richtigen und wirksamen Weise erzielt worden.

Der Grundgedanke der Taktik unseres Parteivorstandes richtete sich leider nicht auf die eigene Massenaktion des Proletariats draußen, sondern auf parlamentarische Konstellationen im Reichstag, und damit war ihre Aussichtslosigkeit von vornherein gegeben. Was war der leitende Gesichtspunkt dieser Taktik? Die Zerschmetterung des Schwarz-Blauen Blocks durch die Bildung einer „linken Mehrheit“ im Reichstage. Alle Hochachtung vor der kühnen Entschlossenheit, aber der Zweck war so

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