dern in der Welt der realen Möglichkeiten bewegt, wo sich die Dinge hart im Raume stoßen. Was also die befürchtete Verhaftung und lebenslängliche Verbannung der deutschen Genossen nach Sibirien sowie die Einführung des russischen Absolutismus im Deutschen Reich betrifft, so sind die Staatsmänner des Blutzaren bei aller geistigen Inferiorität bessere historische Materialisten als unsere Parteiredakteure: Diese Staatsmänner wissen sehr wohl, daß sich eine politische Staatsform nicht überall nach Belieben „einführen” läßt, sondern daß jeder Staatsform eine bestimmte ökonomisch-soziale Grundlage entspricht; sie wissen aus eigener bitterer Erfahrung, daß sogar in Rußland selbst die Verhältnisse ihrer Herrschaft beinahe entwachsen sind; sie wissen endlich, daß auch die herrschende Reaktion in jedem Lande nur die ihr entsprechenden Formen braucht und vertragen kann und daß die den deutschen Klassen- und Parteiverhältnissen entsprechende Abart des Absolutismus der Hohenzollernsche Polizeistaat und das preußische Dreiklassenwahlrecht[1] sind. Bei nüchterner Betrachtung der Dinge bestand also von vornherein gar kein Grund zur Besorgnis, daß der russische Zarismus sich im Ernst bewogen fühlen würde, sogar nicht in dem unwahrscheinlichen Falle seines vollen Sieges, an diesen Produkten der deutschen Kultur zu rütteln.
In Wirklichkeit waren zwischen Rußland und Deutschland ganz andere Gegensätze im Spiel. Nicht auf dem Gebiete der inneren Politik, die im Gegenteil durch ihre gemeinsame Tendenz und innere Verwandtschaft eine jahrhundertealte traditionelle Freundschaft zwischen den beiden Staaten begründet hat, stießen sie zusammen, sondern entgegen und trotz der Solidarität der inneren Politik – auf dem Gebiete der auswärtigen, in den weltpolitischen Jagdgründen.
Der Imperialismus in Rußland ist ebenso wie in den westlichen Staaten aus verschiedenartigen Elementen zusammengeflochten. Seinen stärksten Strang bildet jedoch nicht wie in Deutschland oder in England die ökonomische Expansion des akkumulationshungrigen Kapitals, sondern das politische Interesse des Staates. Freilich hat die russische Industrie, wie das für die kapitalistische Produktion überhaupt typisch ist, bei aller Unfertigkeit des inneren Marktes seit längerer Zeit auch schon einen Export nach dem Orient, nach China, Persien, Mittelasien, aufzuweisen, und die zarische Regierung sucht diese Ausfuhr als erwünschte Grundlage für ihre
[1] Das Dreiklassenwahlsystem war ein ungleiches, indirektes Wahlverfahren, bei dem die Wahlberechtigten jedes Wahlbezirkes nach der Höhe ihrer direkten Steuern in drei Klassen eingeteilt wurden. Jede Klasse wählte für sich in offener Abstimmung die gleiche Anzahl Wahlmänner, die dann erst die Abgeordneten wählen konnten. Dieses undemokratische Wahlrecht galt von 1849 bis 1918 für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus des preußischen Landtages.