Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 246

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Wilsons Sozialismus

[1]

Für jede sozialistische Partei und Richtung ist es heutzutage der wichtigste politische Prüfstein, wie sie sich zu der Friedensfrage stellt. Entscheidend ist dabei selbstverständlich nicht der Wunsch nach Frieden an sich. Dieser ist vielmehr nur eine allgemeine vage Formel, hinter der sich sämtliche Schattierungen der bürgerlichen wie der proletarischen Politik verbergen können. Alles kommt auf die politischen Methoden an, durch die man den Frieden herbeiführen will, und für Sozialisten – auf die Rolle, die man dem Proletariat dabei zuweist. Was ist nun in diesen entscheidenden Punkten die Friedenspolitik der Opposition, die sich um die Arbeitsgemeinschaft schart?

Wenn es nach allem, was wir seit Jahr und Tag im Parlament und außerhalb desselben erlebt haben, eines neuen dokumentarischen Beweises bedurft hätte, um die politische Impotenz, Ratlosigkeit und Hoffnungslosigkeit dieser sogenannten Opposition auf flacher Hand darzutun, so hat ihr offizielles Friedensmanifest[2] aus der Feder Kautskys ein solches Dokument in klassischer Weise geliefert.

„Was die Opposition forderte, war die Bereitschaft zu einem Frieden, in dem es weder Sieger noch Besiegte gibt, zu einem Frieden der Verständigung ohne Vergewaltigung.” Hier haben wir den Angelpunkt des Manifests. „Ein Friede der Verständigung!” Diese „Verständigung” ist in der Tat das Hauptprodukt der Kautskyschen Denkarbeit, das er schon seit langem anpreist, seit er sich von seinem Umfall beim Ausbruch des Krie-

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[1] Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. Nach Auskunft von Rudolf Lindau, einem Mitbegründer der KPD, ist Rosa Luxemburg die Verfasserin.

[2] Auf der von der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft einberufenen Reichskonferenz der Parteiopposition in Berlin am 7. Januar 1917 war ein von Karl Kautsky ausgearbeitetes Manifest für einen „allgemeinen Verständigungsfrieden” gegen die Stimmen der Spartakus-vertreter angenommen worden. – Im Reichstag hatten am 24. März 1916 außer Karl Liebknecht und Otto Rühle 18 sozialdemokratische Abgeordnete gegen den Notetat der Regierung gestimmt. In der folgenden Fraktionssitzung wurden die 18 Abgeordneten aus der sozialdemokratischen Fraktion ausgeschlossen. Sie bildeten daraufhin als „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft” eine eigene Reichstagsfraktion. Karl Liebknecht war schon am 12. Januar 1916 aus der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion ausgeschlossen worden, Otto Rühle aus Solidarität mit Liebknecht am 14. Januar aus der Fraktion ausgetreten.