Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 247

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ges wieder glücklich auf die „mittlere Linie” hinaufgekrabbelt hat. „Verständigt euch! Verständigt euch!” ruft mit Kautsky die Arbeitsgemeinschaft den kriegführenden Mächten zu, genau wie ein friedliebender kleiner Spießer seine sich zankenden Hausnachbarn zur Vernunft ermahnt. Aber was heißt eine „Verständigung” im heutigen Weltkrieg? Das ist doch nichts anderes als die „Verständigung” zwischen Bethmann, Lloyd George, Sasonow oder Miljukow und Ribot über die politische Konstituierung Europas für das nächste Jahrzehnt. Das heißt also derselben bürgerlichen Geheimdiplomatie, derselben Schwarzkunst der Kabinette die Hefte überlassen, der man in so zahllosen Resolutionen, Artikeln und Reden das tiefste Mißtrauen ausgesprochen, die Schuld am heutigen Kriege beigemessen, deren gänzliche Abschaffung man gefordert hat! Und um eine solche „Verständigung“ reißen sich „oppositionelle” Sozialdemokraten, eine solche „Verständigung” rufen sie herbei und weisen sie dem Proletariat als das Ziel seiner Friedenspolitik! Das Ideal der Haase, Ledebour, Kautsky ist dabei nur, daß es „ohne Vergewaltigung” zugehe, daß es „keine Sieger und Besiegten” gebe. Aber „Sieger und Besiegte” bedeuten in der politischen Sprache der Haase–Ledebour dasselbe, was im Jargon der „Deutschen Tageszeitung” und der Militaristen: siegreiche und besiegte Regierungen. Daß das Proletariat als Klasse, daß der Sozialismus als Politik auf jeden Fall als der Besiegte und das Kapital als der Sieger aus dem Kriege hervorgeht, falls die bürgerliche Diplomatie den Frieden macht, falls das Internationale und vor allem das deutsche Proletariat sich nicht aus seiner furchtbaren heutigen Niederlage aufrafft, um durch eine revolutionäre Klassenaktion den Frieden zu erzwingen und zu gestalten; daß jede „Verständigung” der bürgerlichen Regierungen eine Verschwörung gegen das europäische Proletariat ist; daß bei vollkommenem Status quo der staatlichen Grenzen die innerpolitische wie die Internationale Situation, die Klassenverhältnisse der Gesellschaft gänzlich umgewälzt werden nach diesem Kriege – das alles haben die weitblickenden Politiker unter der Führung ihres tiefen Theoretikers nicht bemerkt. Ihre einzige Sorge ist heute, daß kein nationaler Trupp des Imperialismus entscheidend über die andern siegt; ihnen genügt die „Verständigung” der Imperialisten auf der Leiche des Internationalen Sozialismus und die Rückkehr zur politischen Situation, wie sie vor dem Kriege war. Sie sehnen sich nach dem politischen Status quo Europas zurück und begreifen nicht, daß es dieser Status quo eben war, der den unerhörten Aufschwung des Imperialismus ermöglicht und den Ausbruch des Weltkrieges herbeigeführt hat.

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