Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 275

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Brennende Zeitfragen

[1]

I Krieg und Frieden

Die russische Revolution[2] war die erste durchschlagende Äußerung der proletarischen Klassenpolitik seit dem Bankerott des Internationalen Sozialismus beim Ausbruch des Weltkrieges und damit der erste Vorstoß für den Frieden von welthistorischer Tragweite. Gleich am anderen Tage nach dem Siege über das alte Regime begann auch die Aktion des russischen Proletariats gegen den Krieg. Sie war zunächst darauf gerichtet, dem imperialistischen Kriege, wie er vom Zarenregiment und der russischen Bourgeoisie geführt worden war, seinen Charakter zu nehmen. Nach einigen heftigen Kämpfen hat es die russische Arbeitermasse siegreich durchgesetzt, daß von der Provisorischen Regierung offiziell als Formel der Kriegsziele anerkannt wurde: keine Annexionen, keine Entschädigungen, ein Friede auf Grund der Selbstbestimmung der Nationen.[3] Auf den ersten Blick hatte damit die proletarische Politik einen vollen und entscheidenden Sieg davongetragen. Für den Frieden und die Revolution schien freie Bahn geschaffen zu sein. In Wirklichkeit wurde das russische Proletariat durch seinen Sieg nur vor neue Schwierigkeiten und Probleme gestellt.

Die Friedensformel ist gefunden, aber von da bis zum Frieden ist noch ein weiter Weg. Wie ist der Friede zu erzielen? – das ist nun die Frage. Ein Sonderfriede wäre, wie anscheinend sämtliche sozialistische Richtungen in Rußland eingesehen haben, nicht eine Beendigung, sondern nur

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[1] Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. In: Spartakus im Kriege. Die Illegalen Flugblätter des Spartakusbundes im Kriege, gesammelt und eingeleitet von Ernst Meyer, Berlin 1927, wird Rosa Luxemburg als Verfasserin genannt.

[2] Durch die Revolution im Februar 1917 in Rußland wurde der Zarismus gestürzt. Da keine Klasse über die ganze Macht verfügte, bildete sich eine Doppelherrschaft heraus. Die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft wurde verwirklicht durch den Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten, dessen Vorsitzender der Menschewik N. S. Tschchéidse war, und die Diktatur der Bourgeoisie in Form der Provisorischen Regierung, die von dem Fürsten G. J. Lwow geführt wurde. Als Außenminister gehörten ihr an der Führer der Kadetten, P. N. Miljukow, und als Kriegs- und Marineminister der Führer der Oktobristen, A. J. Gutschkow.

[3] Die Provisorische Regierung hatte am 28. März 1917 in einem Aufruf an die Bürger Rußlands versucht, ihre imperialistische Politik zu verschleiern, indem sie erklärte, daß das Ziel Rußlands nicht die Herrschaft über andere Völker und die Eroberung fremder Gebiete sei, sondern ein Frieden auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen. Aber gleichzeitig wurde betont, daß Rußland alle vom Zarismus eingegangenen Verpflichtungen gegenüber den imperialistischen Staaten England und Frankreich einhalten würde.