Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 519

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-4/seite/519

Versäumte Pflichten

[1]

Seit dem 9. November prallt die revolutionäre Welle periodisch gegen dieselbe Mauer: die Regierung Ebert-Scheidemann. Der Anlaß, die Form, die Tragkraft des Zusammenstoßes sind in jeder der revolutionären Krisen, die wir seit acht Wochen erlebt haben, verschieden. Aber der Ruf: Nieder mit Ebert–Scheidemann 1 ist das Leitmotiv aller bisherigen Krisen und die Losung, in die sie alle ausklingen, die Losung, die immer lauter, einmütiger, eindringlicher aus den Massen ertönt.

Das ist auch ganz natürlich. Die Fortentwicklung der Revolution laboriert an dem Grundfehler des 9. November: daß an die Spitze der revolutionären Regierung Leute gestellt worden sind, die bis zur letzten Minute alles getan hatten, was in ihren Kräften lag, um den Ausbruch der Revolution zu verhindern, und die sich nach dem Ausbruch an ihre Spitze mit der klaren Absicht gestellt haben, sie bei der nächsten passenden Gelegenheit abzuwürgen.

Soll die Revolution weiter ihren Gang gehen, soll sie Etappe für Etappe ihrer Entwicklung durchmachen, um ihre historischen Aufgaben: die Abschaffung der bürgerlichen Klassenherrschaft und die Verwirklichung des Sozialismus, zu erfüllen, dann muß die Mauer, die sich ihr entgegenstellt, die Regierung Ebert–Scheidemann, hinweggeräumt werden.

Um diese Spezialaufgabe wird sich die Revolution nicht herumdrücken können, in diese Aufgabe münden alle Erfahrungen der acht Wochen Revolutionsgeschichte aus. Die eigenen Provokationen der Ebert-Regierung: der 6. Dezember[2], die Vereidigung der Gardetruppen[3], der 24. De-

Nächste Seite »



[1] Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. Clara Zetkin nennt in ihrer Arbeit „Um Rosa Luxemburgs Stellung zur russischen Revolution” (Hamburg 1922) Rosa Luxemburg als Verfasserin.

[2] Organisiert vom sozialdemokratischen Berliner Stadtkommandanten Otto Wels, dem Generalkommando des Gardekorps, dem Kriegsministerium und dem Auswärtigen Amt, hatten am 6. Dezember 1918 von reaktionären Offizieren geführte Truppenteile einen Putschversuch unternommen. Sie verhafteten den Vollzugsrat der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte, besetzten die Redaktion der „Roten Fahne, riefen Friedrich Ebert zum Präsidenten aus und schossen in der Chausseestraße in eine unbewaffnete Demonstration, wobei sie 14 Personen töteten und weitere 30 verwundeten.

[3] 3 Am 10. Dezember 1918 waren von konterrevolutionären Offizieren geführte Gardetruppen, die bewaffnet in Berlin einzogen und von Friedrich Ebert, dem Berliner Oberbürgermeister Adolf Wermuth und dem Kriegsminister Heinrich Schcüch begrüßt wurden, auf die ..Republik” vereidigt worden, wobei Generalleutnant Arnold Lequis den Eid für seine Offiziere und Mannschaften leistete.