Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 353

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IV

Wir wollen dies an einigen Beispielen näher prüfen.

Eine hervorragende Rolle in der Politik der Bolschewiki spielte die bekannte Auflösung der Konstituierenden Versammlung im November 1917. Diese Maßnahme war bestimmend für ihre weitere Position, sie war gewissermaßen der Wendepunkt ihrer Taktik. Es ist eine Tatsache, daß Lenin und Genossen bis zu ihrem Oktobersiege die Einberufung der Konstituierenden Versammlung stürmisch forderten, daß gerade die Verschleppungspolitik der Kerenski-Regierung in dieser Sache einen der Anklagepunkte der Bolschewiki gegen jene Regierung bildete und ihnen zu heftigsten Ausfällen Anlaß gab. Ja, Trotzki sagt in seinem interessanten Schriftchen „Von der Oktober-Revolution bis zum Brester Friedens-Vertrag”, der Oktoberumschwung sei geradezu „eine Rettung für die Konstituante” gewesen wie für die Revolution überhaupt. „Und als wir sagten”, fährt er fort, „daß der Eingang zur Konstituierenden Versammlung nicht über das Vorparlament Zeretelis, sondern über die Machtergreifung der Sowjets führe, waren wir vollkommen aufrichtig.”[1]

Und nun war nach diesen Ankündigungen der erste Schritt Lenins nach der Oktoberrevolution – die Auseinandertreibung derselben Konstituierenden Versammlung, zu der sie den Eingang bilden sollte. Welche Gründe konnten für eine so verblüffende Wendung maßgebend sein? Trotzki äußert sich darüber in der erwähnten Schrift ausführlich, und wir wollen seine Argumente hierher setzen[2]:

Das alles ist ausgezeichnet und sehr überzeugend. Nur muß man sich wundern, daß so kluge Leute wie Lenin und Trotzki nicht auf die nächstliegende Schlußfolgerung geraten sind, die sich aus den obigen Tatsachen ergab. Da die Konstituierende Versammlung lange vor dem entscheidenden Wendepunkt, dem Oktoberumschwung, gewählt und in ihrer Zusammensetzung das Bild der überholten Vergangenheit, nicht der neuen Sachlage spiegelte, so ergab sich von selbst der Schluß, daß sie eben die verjährte, also totgeborene Konstituierende Versammlung kassierten und ungesäumt Nachwahlen zu einer neuen Konstituante ausschrieben! Sie wollten und durften die Geschicke der Revolution nicht einer Versammlung anvertrauen, die das gestrige, Kerenskische Rußland, die Periode der Schwankungen und der Koalition mit der Bourgeoisie spiegelte. Wohlan, es blieb nur übrig, sofort an ihrer Stelle eine aus dem erneuer-

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[1] Leo Trotzki: Von der Oktober-Revolution bis zum Bretter Friedens-Vertrag, Berlin o. J., S. 90.

[2] Diese Argumentation, auch Hinweise auf Trotzkis Schrift fehlen in der Quelle.