Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 255

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Russische Probleme

[1]

Jetzt, nachdem das Bild der russischen Revolution und namentlich ihres Werkes trotz aller verhüllenden, mystifizierenden Zutaten der interessierten bürgerlichen Berichterstatter klar und scharf zutage tritt[2], lassen sich einige Grundzüge der gewaltigen Geschehnisse aus dem Wust der Einzelheiten herausheben und festhalten.

Rußland bestätigt in diesem Augenblick wieder einmal die alte historische Erfahrung: Es gibt nichts Unwahrscheinlicheres, Unmöglicheres, Phantastischeres als eine Revolution, noch eine Stunde, bevor sie ausbricht, und es gibt nichts Einfacheres, Natürlicheres und Selbstverständlicheres als eine Revolution, nachdem sie ihre erste Schlacht geschlagen und ihren ersten Sieg errungen hat. So fleißig namentlich in der deutschen Presse seit Jahr und Tag über innere Unruhen, Krisen, Gärungen im Zarenreich berichtet worden ist, steht die deutsche Öffentlichkeit wie die ganze Welt in diesem Augenblick doch sichtbar atemlos vor dem plötzlichen gewaltigen Schauspiel der russischen Revolution. Tausend Gründe hätten sich noch eine Woche vor ihrem Ausbruch gegen ihre Möglichkeit anführen lassen. Das Volk durch den furchtbaren Krieg, die Not und das Elend niedergedrückt. Die bürgerlichen Klassen durch die Erinnerungen an die Revolution vor zehn Jahren für immer von dem Freiheitstraum kuriert und obendrein durch imperialistische Eroberungspläne an den Zarismus gekettet. Die Arbeiterklasse in ihren breiten Kreisen demoralisiert durch den vom Kriege ausgelösten nationalistischen Furor, in ihrem besten sozialistischen Kerntrupp durch den Aderlaß des Krieges dezimiert, durch die Säbeldiktatur zersprengt, ohne Organisation, ohne Presse, ohne Füh-

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[1] Diese Arbeit ist mit Gracchus, einem Pseudonym Rosa Luxemburgs, gezeichnet.

[2] Durch die Revolution im Februar 1917 in Rußland wurde der Zarismus gestürzt. Da keine Klasse über die ganze Macht verfügte, bildete sich eine Doppelherrschaft heraus. Die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft wurde verwirklicht durch den Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten, dessen Vorsitzender der Menschewik N. S. Tschchéidse war, und die Diktatur der Bourgeoisie in Form der Provisorischen Regierung, die von dem Fürsten G. J. Lwow geführt wurde. Als Außenminister gehörten ihr an der Führer der Kadetten, P. N. Miljukow, und als Kriegs- und Marineminister der Führer der Oktobristen, A. J. Gutschkow.