Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 404

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Eine Ehrenpflicht

Für die politischen Opfer der alten Reaktionsherrschaft[1] wollten wir keine „Amnestie”, keine Gnade. Unser Recht auf Freiheit, Kampf und Revolution forderten wir für jene Hunderte Treuer und Braver, die in Zuchthäusern und Gefängnissen schmachteten, weil sie unter der Säbeldiktatur der imperialistischen Verbrecherbande um Volksfreiheit, Frieden, Sozialismus kämpften. Sie sind nun alle frei. Wir stehen wieder in Reih und Glied, zum Kampf bereit. Nicht die Scheidemänner mit ihren bürgerlichen Kumpanen und dem Prinzen Max an der Spitze[2] haben uns befreit, die proletarische Revolution hat die Tore unserer Kasematten gesprengt.

Aber eine andere Kategorie trauriger Insassen jener düsteren Häuser ist völlig vergessen worden. Niemand hat bis jetzt an die Tausende bleicher, abgezehrter Gestalten gedacht, die hinter den Mauern der Gefängnisse und Zuchthäuser zur Sühne für gemeine Vergehen jahrelang schmachteten.

Und doch sind es unglückliche Opfer der infamen Gesellschaftsordnung, gegen die sich die Revolution richtete, Opfer des imperialistischen Krieges, der Not und Elend zur unerträglichen Folter gesteigert, der durch die bestialische Menschenschlächterei in schwachen, erblich belasteten Naturen alle bösen Instinkte entfesselt hat.

Die bürgerliche Klassenjustiz erwies sich wieder einmal als das Netz, durch dessen Maschen räuberische Hechte bequem herausschlüpfen, während kleine Stichlinge darin hilflos verzappeln. Die millionenreichen Kriegswucherer kamen meist straffrei oder mit lächerlichen Geldstrafen davon, die kleinen Diebe und Diebinnen wurden mit drakonischen Freiheitsstrafen gezüchtigt.

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[1] In der Quelle: Revolutionsherrschaft.

[2] Am 3. Oktober 1918 war Prinz Max von Baden zum Reichskanzler ernannt worden. Er bildete eine sogenannte parlamentarische Regierung, die die revolutionäre Bewegung in Deutschland aufhalten, die imperialistische Klassenherrschaft retten und gegenüber der Entente verhandlungswürdig erscheinen sollte. Dieser Regierung gehörten u. a. der Führer der Zentrumsfraktion des Reichstags Adolf Gröber, als Vertreter der Fortschrittlichen Volkspartei Friedrich von Payer und als Vertreter der Sozialdemokratie Philipp Scheidemann und Gustav Bauer an.