Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 132

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dessen rasche Beendigung bedacht zu sein. Das Verhalten der Sozialdemokratie in diesem Kriege, das nach jeder Richtung dahin wirkt, um „die ungeheure Spannung” zu dämpfen, hat die Besorgnisse zerstreut, es hat die einzigen Dämme, die der ungehemmten Sturmflut des Militarismus entgegenstanden, niedergerissen. Ja, es sollte etwas eintreten, was nie ein Bernhardi oder ein bürgerlicher Staatsmann im Traume hätte für möglich halten können: Aus dem Lager der Sozialdemokratie erscholl die Losung des „Durchhaltens”, d. h. der Fortsetzung der Menschenschlächterei. Und so fallen seit Monaten Tausende von Opfern, welche die Schlachtfelder bedecken, auf unser Gewissen.

VII

Wie aber nun trotz alledem: Wenn wir den Kriegsausbruch nicht haben verhindern können, wenn der Krieg einmal da ist, wenn das Land vor einer feindlichen Invasion steht, sollen wir da das eigene Land wehrlos machen, es dem Feinde preisgeben – die Deutschen den Russen, die Franzosen und Belgier den Deutschen, die Serben den Österreichern? Besagt nicht der sozialistische Grundsatz, das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, daß jedes Volk berechtigt und verpflichtet ist, seine Freiheit und Unabhängigkeit zu schützen? Wenn das Haus brennt, muß man da nicht vor allem löschen, statt nach dem Schuldigen zu suchen, der den Brand angelegt hat? Dieses Argument vom „brennenden Hause” hat in der Haltung der Sozialisten hüben wie drüben, in Deutschland wie in Frankreich, eine große Rolle gespielt. Auch in neutralen Ländern hat es Schule gemacht; ins Holländische übertragen heißt es: Wenn das Schiff leck ist, muß man es da nicht vor allem zu verstopfen suchen?

Gewiß, nichtswürdig das Volk, das vor dem äußeren Feinde kapituliert, wie nichtswürdig die Partei, die vor dem inneren Feinde kapituliert. Nur eins haben die Feuerwehrleute des „brennenden Hauses” vergessen: daß im Munde des Sozialisten die Verteidigung des Vaterlandes anderes bedeutet als die Rolle des Kanonenfutters unter dem Kommando der imperialistischen Bourgeoisie. Zunächst was die „Invasion” betrifft: Ist das wirklich jenes Schreckbild, vor dem jeder Klassenkampf im Innern des Landes wie von einem übermächtigen Zauber gebannt und gelähmt verschwindet? Nach der polizeilichen Theorie des bürgerlichen Patriotismus und des Belagerungszustandes ist jeder Klassenkampf ein Verbrechen an den Verteidigungsinteressen des Landes, weil er die Gefährdung und

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