Ein eigenartiges Produkt der Korolenkoschen Feder ist „Der blinde Musikant”. Anscheinend ein rein psychologisches Experiment, behandelt das Werk streng genommen kein künstlerisches Thema. Angeborene Krüppelhaftigkeit kann zwar Quelle vieler Konflikte im menschlichen Leben werden, ist aber selbst jenseits des menschlichen Wollens und Handelns, jenseits von Schuld und Sühne, ausgenommen etwa die Fälle, wo sie als Erbstück das Verschulden der Eltern zum Fluche der Kinder macht. Deshalb werden körperliche Gebrechen sowohl in der Literatur wie in der bildenden Kunst nur episodisch behandelt, entweder in satirischer Absicht, um die geistige Häßlichkeit einer Gestalt noch verächtlicher zu machen, wie im Falle des Thersites bei Homer (auch etwa der stotternden Richter in den Komödien Molières und Beaumarchais’), oder mit gutmütig-humoristischem Einschlag, wie auf den Genrebildchen der niederländischen Renaissance, z. B. auf der Krüppelskizze von Cornelis Dussart.
Anders bei Korolenko: Das seelische Drama des Blindgeborenen, der von einem unwiderstehlichen Drang zum Licht gepeinigt wird, ohne ihn je befriedigen zu können, steht hier im Mittelpunkt des Interesses, und die Lösung, die ihm Korolenko gibt, führt unerwartet wieder auf den Grundton seiner Kunst wie der russischen Literatur überhaupt. Sein blinder Musiker erlebt eine geistige Wiedergeburt, er wird geistig „sehend”, indem er aus dem Egoismus seines eigenen ausweglosen Leides heraustritt, um sich zum Sprachrohr der Leibes- und Seelennot aller Blinden zu machen. Den Höhepunkt der Studie bildet das erste öffentliche Wohltätigkeitskonzert des Blinden, der auf seinem Instrument unerwartet die bekannte Melodie der blinden Bänkelsänger in Rußland variiert und zum Thema einer Improvisation macht, die das aufhorchende Publikum in einer Aufwallung heißen Mitleids erbeben läßt. Das soziale Element, die Solidarität mit dem Massenleid ist hier das Rettende und Lichtspendende für den einzelnen wie für die Allgemeinheit.
III
Der polemische Charakter der russischen Literatur bringt es mit sich, daß sie die Grenzen zwischen der Belletristik und der publizistischen Produktion bei weitem nicht so streng zieht, wie dies heute im Westen der Fall ist. In Rußland fließt häufig das eine in das andere über, wie auch in Deutschland in jener Zeit, da Lessing dem Bürgertum die Wege wies und ihm Theaterkritik, Drama, philosophisch-theologische Streitschrift, ästhetische