Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 317

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Diese starke soziale Note in Korolenkos Schriften hat jedoch gar nichts Lehrhaftes, Streitbares, Apostolisches an sich, wie etwa bei Tolstoi. Sie ist einfach ein Teil seiner Liebe zum Leben, seines gütigen Naturells, seines sonnigen Temperaments. Bei aller Großzügigkeit und Weitherzigkeit der Ansichten, bei aller Abneigung dem Chauvinismus gegenüber ist Korolenko durch und durch ein russischer Dichter, vielleicht der nationalste unter den großen Prosaikern der russischen Literatur. Er liebt nicht bloß sein Land, er ist in Rußland verliebt wie ein Jüngling, verliebt in seine Natur, in die intimen Reize jeder Gegend des Riesenreiches, in jedes schläfrige Flüßchen und jedes stille, waldumsäumte Tal, verliebt in das einfache Volk, seine Typen, seine naive Religiosität, seinen urwüchsigen Humor und seinen grübelnden Tiefsinn. Nicht in der Stadt, nicht im bequemen Eisenbahnabteil, nicht im Rummel und in der Hast des modernen Kulturlebens, nur auf der Landstraße fühlt er sich in seinem Element. Mit Rucksack und selbstgeschnittenem Wanderstab, „in leichtem Wanderschweiße” fürbaß ausschreiten, sich dem Zufall hingeben, bald einem Trupp frommer Pilger zum wundertätigen Heiligenbild folgen, bald am Flußufer gelagert bei nächtlichem Feuer mit Fischern plaudern, bald auf einem schläfrig dahinkriechenden, kleinen defekten Dampfschiff, in eine bunte Menge Bauern, Holzhändler, Soldaten, Bettler gemischt, ihre Gespräche belauschen – das ist die Lebensweise, die ihm am besten behagt. Und er bleibt auf diesen Wanderungen nicht bloß Beobachter wie Turgenjew, der feine, gepflegte Aristokrat. Korolenko kostet es gar keine Mühe, mit Leuten aus dem Volke nach wenigen Worten Fühlung zu bekommen, ihren Ton zu treffen, in der Menge unterzutauchen.

Fast ganz Rußland hat er auf diese Weise kreuz und quer zu Fuß durchwandert. Hier sog er auf jedem Schritt den Zauber der Natur, die naive Poesie der Primitivität ein, die auch Gogol ein Lächeln entlockte. Hier beobachtete er mit Entzücken das elementare fatalistische Phlegma des russischen Volkes, das in ruhigen Zeiten unerschütterlich und unerschöpflich scheint, um in Augenblicken des Sturmes in Heldenmut, Größe und stahlharte Kraft umzuschlagen – ganz wie jener liebliche Fluß seiner Erzählung, der bei gewöhnlichem Wasserstand sanft und demütig dahinplätschert, bei Hochwasser aber zu einem stolzen, ungeduldigen, prächtig drohenden Strom anschwillt. Hier, im unmittelbaren und ungezwungenen Verkehr mit der Natur und dem einfachen Volke, füllte Korolenko sein Tagebuch mit frischen, farbigen Eindrücken, die fast unverändert, noch von blinkenden Tautropfen bedeckt, von Erdgeruch umweht, seine Skizzen und Novellen ergaben.

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