Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 486

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III Unser Programm und die politische Situation

Wenn wir heute an die Aufgabe herantreten, unser Programm[1] zu besprechen und es anzunehmen, so liegt dem mehr als der formale Umstand zugrunde, daß wir uns gestern als eine selbständige neue Partei konstituiert haben und daß eine neue Partei offiziell ein Programm annehmen müsse; der heutigen Besprechung des Programms liegen große historische Vorgänge zugrunde, nämlich die Tatsache, daß wir vor einem Moment stehen, wo das sozialdemokratische, sozialistische Programm .des Proletariats überhaupt auf eine neue Basis gestellt werden muß. Parteigenossen, wir knüpfen dabei an den Faden an, den genau vor 70 Jahren Marx und Engels in dem Kommunistischen Manifest gesponnen hatten. Das Kommunistische Manifest behandelte den Sozialismus, die Durchführung der sozialistischen Endziele, wie Sie wissen, als die unmittelbare Aufgabe der proletarischen Revolution. Es war die Auffassung, die Marx und Engels in der Revolution von 1848 vertraten und als die Basis für die proletarische Aktion auch im Internationalen Sinne betrachteten. Damals glaubten die beiden und mit ihnen alle führenden Geister der proletarischen Bewegung, man stände vor der unmittelbaren Aufgabe, den Sozialismus einzuführen; es sei dazu nur notwendig, die politische Revolution durchzusetzen, der politischen Gewalt im Staate sich zu bemächtigen, um den Sozialismus unmittelbar zu Fleisch und Blut zu machen. Nachher wurde, wie Sie wissen, von Marx und Engels selbst eine durchgreifende Revision dieses Standpunktes vorgenommen. In der ersten Vorrede zum Kommunistischen Manifest vom Jahre 1872, die noch von Marx und Engels gemeinsam unterzeichnet ist (abgedruckt in der Ausgabe des K. M. von 1894), sagen die beiden über ihr eigenes Werk: „Dieser Passus” – das Ende von Abschnitt II, nämlich die Darlegung der praktischen Maßnahmen zur Durchführung des Sozialismus – „würde heute in vieler Beziehung anders lauten. Gegenüber der immensen Fortentwicklung der großen Industrie in den letzten fünfundzwanzig Jahren und der mit ihr fortschreitenden Parteiorganisation der Arbeiterklasse, gegenüber den praktischen Erfahrungen, zuerst der Februarrevolution und noch weit mehr der Pariser Kommune, wo das Proletariat zum erstenmal zwei Monate lang die politische Gewalt innehatte, ist heute dies Programm stellenweise veraltet. Namentlich hat die Kommune den Beweis geliefert, daß ,die Arbeiterklasse nicht

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[1] Siehe Rosa Luxemburg: Was will der Spartakusbund? In: GW, Bd. 4, S. 440–449.