Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 204

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Die Menge tut es

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Lange Zeit hindurch galt in der Wissenschaft als feststehende Tatsache, daß in den Uranfängen der Kulturgeschichte die Menschen ein Einzeldasein führten, höchstens Mann und Weib sich zusammenfanden, um Kinder zu zeugen, im übrigen aber jeder und jede auf sich selbst gestellt sich durchs Leben schlugen. Der Einzelmensch und seine Waffe oder seine naturwüchsigen Werkzeuge – dies ist das Bild, womit die Geschichte der Menschheit nach der Vorstellung und Darstellung der meisten Gelehrten beginnt.

So sagt z. B. der berühmte Kulturhistoriker Lippert gleich zu Beginn seiner Schilderung der Urzeit: „Das aber ist das Kennzeichnende der Urzeit: die Lebensfürsorge auf der niedrigsten Stufe, beschränkt räumlich auf das Individuum, zeitlich auf den Augenblick der Bedürfnisempfindung.” Und an einer anderen Stelle betont Lippert noch einmal ausdrücklich, daß lange Zeit hindurch in der Urzeit „im großen und ganzen jeder für sich seine Nahrung suchte, ein Hand-in-Hand-Greifen, eine Art Teilung der Arbeit, kurz, eine gesellschaftliche Fürsorge nicht stattfand”. Ein anderer hochangesehener Gelehrter, Ratzel, gibt zwar zu, daß jeder Kulturfortschritt der Menschheit erst durch das Zusammenwirken vieler ermöglicht wurde, glaubt aber, daß den gesellschaftlichen Kulturzuständen eben ein Zustand vereinzelter Lebensweise der Menschen voraufgegangen sei. „Der wichtigste Schritt aus der Roheit zur Kultur”, sagt er, „ist die Loslösung der Einzelmenschen aus der gänzlichen oder zeitweiligen Vereinzelung, welche

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[1] Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. Nach Angabe von Wilhelm Rodominsky, der nach der Konferenz der oppositionellen sozialistischen Jugend am 23. und 24. April 1916 in Jena mit der Redaktion und der Herausgabe der .,Freien Jugend” beauftragt worden war, stammt der Artikel von Rosa Luxemburg.