Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 342

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III

Die Bolschewiki sind die historischen Erben der englischen Gleichmacher und der französischen Jakobiner. Aber die konkrete Aufgabe, die ihnen in der russischen Revolution nach der Machtergreifung zugefallen ist, war unvergleichlich schwieriger als diejenige ihrer geschichtlichen Vorgänger.[1] Gewiß war die Losung der unmittelbaren, sofortigen Ergreifung und Aufteilung des Grund und Bodens durch die Bauern[2] die kürzeste, einfachste, lapidarste Formel, um zweierlei zu erreichen: den Großgrundbesitz zu zertrümmern und die Bauern sofort an die revolutionäre Regierung zu fesseln. Als politische Maßnahme zur Befestigung der proletarisch-sozialistischen Regierung war dies eine vorzügliche Taktik. Sie hatte aber leider ihre zwei Seiten, und die Kehrseite bestand darin, daß die unmittelbare Landergreifung durch die Bauern mit sozialistischer Bewirtschaftung gar nichts gemein hat.

Die sozialistische Umgestaltung der Wirtschaftsverhältnisse setzt in bezug auf die Agrarverhältnisse zweierlei voraus. – Zunächst die Nationalisierung gerade des Großgrundbesitzes als derjenigen technisch fortschrittlichsten Konzentration der agrarischen Produktionsmittel und Methoden, die allein zum Ausgangspunkt der sozialistischen Wirtschaftsweise auf dem Lande dienen kann. Wenn man natürlich dem Kleinbauern seine Parzelle nicht wegzunehmen braucht und es ihm ruhig anheimstellen kann, sich durch Vorteile des gesellschaftlichen Betriebes freiwillig zuerst für den Weg des genossenschaftlichen Zusammenschlusses und schließlich für die Einordnung in den sozialen Gesamtbetrieb gewinnen zu lassen, so muß jede sozialistische Wirtschaftsreform auf dem Lande selbstverständlich mit dem Groß- und Mittelgrundbesitz anfangen. Sie muß hier das Eigentumsrecht vor allem auf die Nation oder, was bei sozialistischer Regierung

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[1] Notiz Rosa Luxemburgs am oberen Rand ohne Einordnungshinweis: „(Bedeutung der Agrarfrage. Schon 1905. Dann in der III. Duma die rechten Bauern! Bauernfrage und Verteidigung, Armee.)”

[2] Entsprechend dem vom II. Gesamtrussischen Sowjetkongreß beschlossenen Dekret über den Grund und Boden vom 8. November 1917 und dem darin enthaltenen „bäuerlichen Wählerauftrag” wurde das Privateigentum an Grund und Boden aufgehoben und das Eigentum der Gutsbesitzer, die Apanage, Kloster- und Kirchenländereien entschädigungslos enteignet. Der Boden wurde nach dem Prinzip der ausgleichenden Bodennutzung, d. h. nach bestimmten Arbeits- und Verbrauchsnormen, unter den Werktätigen aufgeteilt. Die Form der Bodennutzung, ob Einzelwirtschaft, Gemeinde- oder Artelwirtschaft, wurde den Dörfern freigestellt. Ländereien mit hochentwickelten Wirtschaften wurden nicht aufgeteilt, sondern gingen in die Hände der Gemeinde oder des Staates. Durch diese Maßnahmen wurden die dringenden Bedürfnisse der Massen der armen Bauern befriedigt. Mit dieser Lösung der Bodenfrage waren die Bolschewiki „dem Marxismus treu geblieben und haben nicht versucht, die bürgerlich-demokratische Revolution ,zu überspringen’“. Gleichzeitig wurde damit„das im Sinne des Übergangs zum Sozialismus geschmeidigste Agrarsystem” geschaffen. (W. I. Lenin: Werk, Bd. 28, 5. 315).