Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 33

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Perspektiven und Projekte

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Die jüngste Broschüre Kautskys, „Nationalstaat, imperialistischer Staat und Staatenbund” (Nürnberg [1915], Fränkische Verlagsanstalt), ist zum Teil nur Wiederholung, zum Teil aber eine Ergänzung der Äußerungen, die er in verschiedenen Artikeln der „Neuen Zeit” zum gegenwärtigen Kriege getan hat.

Zunächst untersucht Kautsky das Wesen und die historische Rolle des Nationalstaates und weiß von ihm eine Menge Dinge zu erzählen, von denen kein Mensch bisher etwas wußte. So erfahren wir, daß der Nationalstaat sowohl eine unabweisbare logische Konsequenz der „modernen großstaatlichen Demokratie” wie auch umgekehrt ihre unentbehrliche Grundlage ist. Nationalstaat und „moderne Demokratie” – zweieinig sind sie, nicht zu trennen. Wir erfahren ferner, daß Österreich z. B. nur dadurch demokratisch zu regenerieren sei, daß es als Einheitsstaat in einen Bund von Nationalstaaten aufgelöst wird, daß auch von den „Grenzvölkern Rußlands” eine solche Auflösung in Nationalstaaten „gefordert wird” u. dgl. Während nach der bisherigen Auffassung der Sozialdemokratie die ganze nationale Phraseologie sowohl in Österreich wie in Rußland wie in Deutschland und überall vorzugsweise dazu diente, durch Verwirrung des Klassenkampfes die Geschäfte der Bourgeoisie und ihrer Klassenherrschaft zu besorgen, erleuchtet uns Kautsky, daß die nationalen Kämpfe innerhalb des heutigen Staates nur aus „dem demokratischen Empfinden” fließen und um so stärker hervortreten, je stärker dieses Empfinden ist.

Bei Kautsky verschwindet also vollständig die Auffassung des Nationalstaates als einer vorübergehenden, geschichtlich bedingten Phase der bürgerlichen Klassenherrschaft, einer Phase, die vom Imperialismus längst

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[1] Diese Rezension ist mit Mortimer, einem Pseudonym Rosa Luxemburgs, gezeichnet.