Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 34

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-4/seite/34

überwunden und am deutlichsten gerade in dem gegenwärtigen Weltkriege zu Grabe getragen wird. Für Kautsky ist der Nationalstaat ein Schema der modernen Demokratie und als solches zugleich das Zukunftsideal, ja das Programm der Sozialdemokratie! „Von der bürgerlichen Demokratie hat die Sozialdemokratie das Streben nach dem Nationalstaat übernommen”, fabuliert Kautsky (S. 11), obwohl bis jetzt nicht eine einzige sozialdemokratische Partei bekannt ist, die ein solches „Streben” auf ihr Programm geschrieben hätte, und obwohl bis jetzt, umgekehrt, das Zusammenschweißen der Proletarier ohne Unterschied der Nationalität in jedem Staate zum gemeinsamen Klassenkampf mit gemeinsamem Programm im Gegensatz zu kleinbürgerlichen Nationalbestrebungen als die Aufgabe der Sozialdemokratie betrachtet wurde. Die Sozialdemokratie erkannte freilich nach der Formulierung des Londoner Internationalen Kongresses aus dem Jahre 1896[1] „das Selbstbestimmungsrecht jeder Nationalität” an. Aber zwischen dieser Formel und dem „Streben zum Nationalstaat” liegt eben der ganze Abgrund, der sozialistische Grundsätze von bürgerlichen politischen Programmen trennt. Seine verblüffende Entdeckung konnte Kautsky nur fertigbringen, weil er einfach in der blauen Luft der Abstraktion Nationalstaat und Demokratie identifiziert. Und da „Demokratie” natürlich von der Sozialdemokratie „erstrebt” wird, so ergibt sich daraus auf die einfachste Art von der Welt, daß wir auch nach dem Nationalstaat „streben” müssen.

Was ist nun aber eigentlich jene „moderne Demokratie”, die das Ziel unserer Sehnsucht sein soll? Die Antwort darauf gibt – so wird der Leser meinen – das Minimalprogramm der Sozialdemokratie. Weit gefehlt! Kautsky nennt „moderne Demokratie” – den heutigen bürgerlichen Parlamentarismus! Der heutige preußisch-deutsche Halbabsolutismus z. B. muß uns schon nach diesem Schema als „moderne Demokratie” erscheinen.

Denn hören wir ihn erzählen:

„In dem gleichen Zeitraum, in dem sich jene beiden Riesenreiche (Großbritannien und Rußland – R. L.) bildeten, erstanden aber schon die materiellen Bedingungen, die Demokratie über das Bereich der Gemeinde oder der Markgenossenschaft hinaus in einem größeren Staate zu verwirklichen und damit die primitive Demokratie durch die moderne zu ersetzen. Dies wurde erreicht durch die Entwicklung des Verkehrs, des Buchdrucks sowie durch die Verallgemeinerung des Lesens und Schreibens … Gleichzeitig bildete sich der moderne Großstaat mit einer zentra-

Nächste Seite »



[1] Der Internationale sozialistische Arbeiter- und Gewerkschaftskongreß in London fand vom 27. Juli bis 1. August 1896 statt.