Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 232

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-4/seite/232

Offene Briefe an Gesinnungsfreunde

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Von Spaltung, Einheit und Austritt

Seit dem 4. August 1914 hat in der deutschen Sozialdemokratie ein Prozeß der Zersetzung und des Zerfalls eingesetzt, der keinen Tag und keine Stunde ruht und der sich mit der ganzen Strenge und Folgerichtigkeit eines Naturprozesses vollzieht. Jeder neue Schritt auf der Bahn der imperialistischen Politik, jeder neue positive Vorstoß der herrschenden Gewalten zur Stärkung ihrer Machtposition, jede Zusammenberufung und jede Heimsendung des Reichstags im Dienste der herrschenden Politik, ja, einfach jeder weitere Tag der Fortdauer des Krieges stellen sich zugleich auf seiten der Sozialdemokratie als ebenso viele neue weitere Einstürze ihres Gebälks, Abrutsche ihres morschen Gemäuers dar. Jede neue Aktion des triumphierenden Imperialismus schaltet nämlich die Sozialdemokratie als Faktor der aktiven Politik immer weiter aus, vertilgt sie und löscht sie immer mehr als eine Partei mit besonderer Politik, als Organ der Klasseninteressen des Proletariats, vom öffentlichen Leben Deutschlands aus.

Wer diesen gewaltigen historischen Prozeß in seiner ganzen Breite und Tiefe überblickt, kann nur mit Achselzucken und mitleidigem Lächeln sowohl die geschäftigen Sorgen der Regierungssozialisten Scheidemann & Co. betrachten, die durch allerlei Kniffe und Schelmenstreiche ihre Herrschaft über die Gesamtpartei auf die Dauer zu begründen trachten, wie auch die ehrpusselige Entrüstung der sanften Opposition um Haase–Ledebour, wenn sie sich der „Spaltungstendenzen” verdächtigt glaubt. Das ergötzliche Gezänk zwischen beiden Richtungen darüber, welche von ihnen die Partei eigentlich „spalten wolle”, und die eifrigen Bemühungen jeder von ihnen, ihrem Widerpart den ungeheuerlichen Frevel in die Schuhe zu schieben, ist an sich ein niedlicher Beitrag zu der Tatsache, wie sehr im

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[1] Diese Arbeit ist mit Gracchus, einem Pseudonym Rosa Luxemburgs, gezeichnet.