Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 233

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Grunde genommen die ganze Auffassung von den Grundbedingungen der Parteiexistenz bei der Rechten und beim Sumpfe aus gleichem Holze geschnitten ist. Vereine, Instanzen, Konferenzen, Generalversammlungen, Kassenbücher, Mitgliedsbücher, das ist „die Partei” nach den Scheidemann-Genossen wie nach den Haase-Genossen. Die einen wie die andern merken nicht, daß sich Vereine, Instanzen, Mitgliedsbücher und Kassenbücher mit dem Augenblick in wertlosen Plunder verwandeln, in dem die Partei aufhört, die durch ihr Wesen bedingte Politik zu treiben. Die einen wie die andern merken nicht, daß ihr Gezänk um die Frage der Spaltung oder der Einigkeit der deutschen Sozialdemokratie deshalb ein Streit um des Kaisers Bart ist, denn die deutsche Sozialdemokratie existiert heute als Ganzes gar nicht mehr.

Stellen wir uns für einen Augenblick vor, daß in der Peterskirche in Rom, diesem ehrwürdigsten Tempel des christlichen Glaubens, diesem köstlichsten Denkmal der religiösen Kultur, eines schönen Morgens, die Feder sträubt sich fast, es niederzuschreiben, statt des katholischen Gottesdienstes vor aller Augen eine – nun, eine schamlose Orgie wie in einem öffentlichen Hause entfesselt wäre. Stellen wir uns noch Entsetzlicheres vor, denken wir uns, daß die Priester bei dieser Orgie ihre Talare, ihre Ornate, ihre Weihrauchgefäße beibehalten würden, die sie früher beim Hochamt gebraucht hatten. Wäre die Peterskirche alsdann doch noch eine Kirche, oder wäre sie ganz etwas anderes? Die schlanken Mauern würden freilich noch dieselben sein, die Altäre und die Meßgewänder wären die alten, aber voll Schaudern würde jeder nach einem Blick ins Innere zurückprallen und verstört fragen: Was ist in aller Welt aus der Kirche geworden?

Nun, eine Kirche ist ein Haus, in dem man zu Gott betet, und die Sozialdemokratie ist eine Partei, die proletarischen Klassenkampf führt. Mit dem offiziellen Aufgeben des Klassenkampfes ist die deutsche Sozialdemokratie mit der unwiderstehlichen Gewalt einer abstürzenden Lawine ihrem Zersetzungsprozeß anheimgefallen, und heute beherbergt ihr windschiefes Dach so weit auseinanderstrebende Tendenzen, so ihrem Wesen nach weltferne und todfeindliche Elemente wie Bourgeoisie und Proletariat, wie Imperialismus und Sozialismus, wie Klassenstaat und Internationale Völkerverbrüderung.

Von hier aus ist der politische Plan in Westentaschenformat zu beurteilen, mit dem die sanfte Opposition der Mitte an diese in der Weltgeschichte nie dagewesene historische Situation herantritt. Der ganze Plan ist in einem Worte erschöpft und auch schon kritisiert: „Zurück!” Sie wol-

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