Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 12

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Keine Überraschung

[1]

Als der deutsche Reichstag am 4. August zu der denkwürdigen Sitzung zusammentrat, in der er dem beginnenden Kriege seinen Segen als Volksvertretung erteilen sollte, war der Krieg selbst wie eine schwarze Gewitterwolke mit unheimlicher Plötzlichkeit vor der atemlosen Welt erstanden. Merkwürdig genug! Auch die Sozialdemokratie, die doch das Kommen des Weltkrieges mit der festen Sicherheit eines Naturforschers voraussagte, die ihn aus ehernen Gesetzen der modernen Entwicklung der Gesellschaft als logische Folgeerscheinung ableitete, auch sie erschrak und blieb atemlos stehen, als ihr eigenes Wort zum Fleisch ward und in seiner ganzen Furchtbarkeit vor ihr stand. Freilich, vor dem Richterstuhl der Geschichte ist es noch keiner ernsten politischen Macht als Entschuldigung angerechnet worden, daß sie sich von dem Sturm der Ereignisse hat überraschen lassen. Die wissenschaftliche Erkenntnis, die untrüglichen wegweisenden Grundsätze, auf die wir als Marx’ und Engels’ Jünger bislang so stolz waren, sind uns eben dazu gegeben, damit wir nicht von blindwaltenden Kräften der Geschichte wie schwankes Rohr hin und her gepeitscht werden, damit uns nicht, wie den biblischen Jungfrauen, das Öl auf dem Lämpchen just in dem Augenblick ausgeht, wo der Bräutigam an die Tür pocht.

Blättert man unsere Parteipresse der letzten Juliwoche durch, die dem Ausbruch des Krieges vorausging, so kann man sich eines merkwürdigen Gefühls nicht erwehren: So fremd, so fern, so unwahrscheinlich kommt einem jene Sprache vor, in der damals vom Kriege gesprochen wurde. Wohl keine Partei in der Geschichte hat je einen so schroffen Umschwung der Meinungen, des Tones, der politischen Geschmacksrichtungen durchgemacht wie die deutsche Sozialdemokratie, wie er sich in ihrer Presse vor

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[1] Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. Nach Auskunft von Rudolf Lindau, einem Mitbegründer der KPD, ist Rosa Luxemburg die Verfasserin.