Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 13

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und nach dem 4. August spiegelt. Die Plötzlichkeit, die Überraschung springen hier in die Augen.

Jetzt haben wir vier Monate Weltkrieg hinter uns, und am 2. Dezember tritt die Volksvertretung unter wesentlich anderen Voraussetzungen zusammen, um zum zweiten Mal ihrerseits zum Kriege Stellung zu nehmen. Gar vieles ist im Laufe dieser sechzehn Wochen zutage getreten, wovon man beim ersten Ausbruch des Völkerringens keine greifbare Vorstellung hatte. Was ein Weltkrieg mit den heutigen Millionenheeren und den heutigen technischen Mitteln in seiner ganzen blutigen Leibhaftigkeit bedeutet, das vermochte keine theoretische Voraussicht und keine Phantasie auszumalen. Wie furchtbar jeder Krieg an sich sein mag, wie entsetzlich die Greuel und die Verwüstungen der letzten Balkankriege[1] waren – das gegenwärtige gigantische Völkerringen mit seinen zyklopischen Zerstörungsmaßnahmen, seinen todspeienden Luftschiffen und Flugzeugen, seinen Schlachten in drei Naturelementen und fünf Weltteilen, seinen unübersehbaren Trümmerfeldern an Kultur und Menschenglück, dies Bild der Hölle auf Erden, dieser gewaltige Ausbruch der Anarchie einer Gesellschaftsform, die ihre Geschicke nicht zu meistern versteht, hat alles bis dahin Gewesene in den Schatten gestellt.

Auch die inneren Verhältnisse dieses Krieges sind mittlerweile in deutlichen, klaren Zügen sichtbar geworden, wenn sich auch seine Losungen als wandelbar erwiesen. Zu Beginn war es der Kampf gegen die zaristische Despotie, was die Volksvertretung hauptsächlich begeisterte. Seitdem hat sich die Achse der politischen Orientierung vom Osten nach dem Westen verschoben, wo nunmehr England als der Erbfeind dem Hasse des Deutschen empfohlen wird. Das Wort vom Burgfrieden, der keine Klassen und Parteien kennt[2], hat seitdem in der Praxis des Alltags die Probe bestehen müssen. Der Belagerungszustand und die von ihm diktierte Presse-

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[1] Im ersten Balkankrieg vom 8. Oktober 1912 bis 30. Mai 1913 führten die Länder des Balkanbundes, der im Frühjahr 1912 mit der Unterstützung Rußlands zwischen Bulgarien, Griechenland, Serbien und Montenegro entstanden war, Krieg gegen die Türkei, der mit deren Niederlage und der Befreiung Trakiens, Makedoniens und Albaniens von der türkischen Fremdherrschaft endete. Dieser Krieg war in seiner Haupttendenz ein nationaler Befreiungskrieg. Der Balkanbund zerfiel nach dem ersten Balkankrieg wegen Streitigkeiten um die Verteilung der von der Türkei befreiten Gebiete.

Im zweiten Balkankrieg vom 29. Juni 1913 bis 30. Juli 1913 standen sich Serbien, Griechenland, Rumänien, Montenegro und die Türkei einerseits und Bulgarien andererselts gegenüber. Der Krieg um die Neuverteilung des türkischen Erbes endete mit einer Niederlage Bulgariens, das einen Teil der im ersten Balkankrieg eroberten Gebiete verlor.

Infolge der Einmischung der imperialistischen Großmächte gefährdeten die Balkankriege den Frieden in Europa.

[2] In der Eröffnungssitzung des Reichstages am 4. August 1914 hatte Wilhelm II. erklärt: „Ich kenne keine Parteien mehr, Ich kenne nur Deutsche.”