Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 14

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zensur sowie die völlige Zurückhaltung des öffentlichen politischen Lebens haben eine viermonatige Dauer aufzuweisen und können als eine Schule betrachtet werden, in der das politische Urteil zu reifen Gelegenheit hatte. Die Wirkungen dieser Zeitspanne auf die geistige Verfassung sowohl der bürgerlichen Parteien und namentlich der bürgerlichen Intelligenz wie auch der sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Presse können mit aller Bestimmtheit bereits wahrgenommen werden. Nicht minder deutlich und klar ist allmählich die Wirkung des Krieges speziell auf die proletarische Internationale zutage getreten. Aus den Vorgängen der jüngsten Zeit aber ist insbesondere der neue, zu Beginn des Krieges ganz unvorhergesehene Umstand ins Auge zu fassen: der Eintritt der Türkei in das allgemeine Ringen.[1] Nachdem auch dieser alte Wetterwinkel Internationaler Stürme, der nach drei Weltteilen Blitze und Erdbeben ausstrahlt, mit in die Katastrophe hineingerissen worden, muß es jedermann klar sein, daß es heute nicht mehr um Haus und Hof, um das Dach über dem eigenen Haupte und die traute nationale Heimat geht, sondern daß wir mitten in einer neuen Weltordnung und Weltverteilung stehen, in einer Krise, deren Dauer, Tragweite, Opfer und Folgen für alle Völker unübersehbar sind. Die Geister, die sie rief, die bürgerliche Welt, sie führen ihren rasenden Höllentanz auf.

So gibt es am 2. Dezember keine Überraschung mehr, wie es sie am 4. August gab. Mit voller Überlegung, gereift durch das Erlebnis, belehrt durch die Erfahrung in jeder Hinsicht, so tritt die Volksvertretung nun an ihre Aufgabe heran, und so wird sie erst jetzt ihre volle Verantwortung übernehmen.

Im Leben der Völker wie im Leben der Parteien gibt es Schicksalsstunden, in denen sie auf die Probe gestellt werden. Freilich vollzieht sich der Gang der Geschichte nach eigenen, unverbrüchlichen Gesetzen. Aber die Menschen sind dieser Gesetze Träger. Sie machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken, aber sie machen sie selbst. Und Parteien wie Völker trugen die Folgen ihrer Entschließungen und ihrer Taten in solchen Schicksalsstunden.

Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin),
Nr. 122 vom 27. November 1914.

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[1] Obwohl sich die Türkei am 2. August 1914 in einem geheimen Abkommen mit Deutschland verpflichtet hatte, auf seiten Deutschlands in den Krieg einzutreten, erklärte sie zunächst nur die „bewaffnete Neutralität”. Auf Druck deutscher Politiker und Militärs griff die türkische Flotte Ende Oktober 1914 russische Schiffe im Schwarzen Meer an, was zur Kriegserklärung Rußlands an die Türkei am 3. November und Englands und Frankreichs an die Türkei am 5. November führte.