Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 393

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Die kleinen Lafayette

[1]

Das alte bekannte Spiel der Geschichte wiederholt sich regelrecht in Deutschland. Wenn der Boden der alten Klassenherrschaft zu wanken und zu beben beginnt, dann erscheint in zwölfter Stunde ein „Reformministerium” auf der Bildfläche. Im Jahre 1789, als der Donner der großen Revolution in Frankreich schon vernehmlich zu grollen begann, entschloß sich Ludwig XVI. schweren Herzens zu dem Ministerium Necker. Am Vorabend der Julirevolution im Jahre 1830 versuchte es die bourbonische Restauration einen Augenblick mit dem Ministerium Martignac, das an die Opposition Zugeständnisse machen sollte. Und im Jahre 1848, als schon die ersten Barrikaden der Februarrevolution von den Parisern .errichtet wurden, erschien auf der Bildfläche das Eintagsministerium Thiers-Odilon Barrot.

Der historische Sinn und Zweck solcher „Reformministerien” in letzter Stunde, bei heraufziehendem Vollgewitter, ist stets derselbe: die „Erneuerung” des alten Klassenstaates „auf friedlichem Wege”, d. h. die Änderung von Äußerlichkeiten und Lappalien, um den Kern und das Wesen der alten Klassenherrschaft zu retten, um einer radikalen, wirklichen Erneuerung der Gesellschaft durch die Massenerhebung vorzubeugen.

Das historische Schicksal dieser Ministerien der zwölften Stunde ist auch stets dasselbe: Sie sind durch ihre innere Halbheit und ihren inneren Widerspruch mit dem Fluche der Ohnmacht beladen. Das Volk empfindet sie instinktiv als einen Schachzug der alten Mächte, um sich am Ruder zu erhalten. Die alten Mächte mißtrauen ihnen als unzuverlässigen Dienern ihrer Interessen. Die treibenden Kräfte der Geschichte, die das Reformministerium erzwungen haben, eilen alsbald über dasselbe hinaus. Es

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[1] Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. In: Illustrierte Geschichte der Deutschen Revolution. Berlin 1929, S. 172 f., wird Rosa Luxemburg als Verfasserin genannt.