Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 258

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Der alte Maulwurf

[1]

Mit dem Ausbruch der russischen Revolution[2] ist der tote Punkt überwunden, auf den die geschichtliche Situation mit der Fortdauer des Weltkrieges und dem gleichzeitigen Versagen des proletarischen Klassenkampfes geraten war. In dem von Moderluft erfüllten Europa, worin man seit bald drei Jahren beinahe erstickte, ist gleichsam plötzlich ein Fenster aufgerissen worden, und ein frischer, belebender Luftstrom weht hinein, dem sich alles tief aufatmend zuwendet. Namentlich die Blicke der „deutschen Befreier” sind heute gespannt auf den Schauplatz der russischen Revolution gerichtet. Die winselnden Huldigungen der deutschen und österreichisch-ungarischen Regierung an die „Schnorrer und Verschwörer” und die ängstliche Spannung, mit der man hier jede Äußerung Tschcheidses und des Arbeiter- und Soldatenrats in bezug auf die Kriegs- und Friedensfrage auffängt, sind jetzt eine handgreifliche Bestätigung der Tatsache, der noch gestern sogar die oppositionellen Sozialisten von der A.G.[3] verständnislos gegenüberstanden: der Tatsache nämlich, daß keinerlei diplomatische „Verständigung” und keine Wilson-Botschaften[4], daß einzig und allein die revolutionäre Aktion des Proletariats einen Ausweg aus der Sackgasse des Weltkrieges bietet. Die Sieger von Tannenberg und Warschau[5] erwarten jetzt zitternd von den russischen Proletariern, von der „Straße” allein die eigene „Befreiung” aus der würgenden Schlinge des Krieges!

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[1] Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. In: Spartakus im Kriege. Die Illegalen Flugblätter des Spartakusbundes im Kriege, gesammelt und eingeleitet von Ernst Meyer, Berlin 1927, wird Rosa Luxemburg als Verfasserin genannt.

[2] Durch die Revolution im Februar 1917 in Rußland wurde der Zarismus gestürzt. Da keine Klasse über die ganze Macht verfügte, bildete sich eine Doppelherrschaft heraus. Die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft wurde verwirklicht durch den Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten, dessen Vorsitzender der Menschewik N. S. Tschchéidse war, und die Diktatur der Bourgeoisie in Form der Provisorischen Regierung, die von dem Fürsten G. J. Lwow geführt wurde. Als Außenminister gehörten ihr an der Führer der Kadetten, P. N. Miljukow, und als Kriegs- und Marineminister der Führer der Oktobristen, A. J. Gutschkow.

[3] Im Reichstag hatten am 24. März 1916 außer Karl Liebknecht und Otto Rühle 18 sozialdemokratische Abgeordnete gegen den Notetat der Regierung gestimmt. In der folgenden Fraktionssitzung wurden die 18 Abgeordneten aus der sozialdemokratischen Fraktion ausgeschlossen. Sie bildeten daraufhin als „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft” eine eigene Reichstagsfraktion. Karl Liebknecht war schon am 12. Januar 1916 aus der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion ausgeschlossen worden, Otto Rühle aus Solidarität mit Liebknecht am 14. Januar aus der Fraktion ausgetreten.

[4] Der Präsident der USA, Woodrow Wilson, hatte an alle kriegführenden Länder eine vom 18. Dezember 1916 datierte Note gerichtet, in der er sie aufforderte, die Bedingungen bekanntzugeben, unter denen sie bereit seien, in Friedensverhandlungen einzutreten.

[5] Die deutschen Truppen hatten in der Schlacht bei Tannenberg vom 23. bis 31. August 1914 die russische Nareu.armee entscheidend geschlagen und im Zuge der Sommeroffensive der Mittelmächte 1915 am 5. August Warschau besetzt.