Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 74

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mit dessen Ausbruch ist in der Geschichte ein Dokument unauflöslich verknüpft: die Emser Depesche[1], ein Dokument, das für alle bürgerliche Staatskunst im Kriegmachen ein klassisches Erkennungswort geworden ist und das auch eine denkwürdige Episode in der Geschichte unserer Partei bezeichnet. Es war ja der alte Liebknecht, es war die deutsche Sozialdemokratie, die damals für ihre Aufgabe und ihre Pflicht hielt, aufzudecken und den Volksmassen zu zeigen: „Wie Kriege gemacht werden.”

Das Kriegmachen einzig und allein zur Verteidigung des bedrohten Vaterlandes war übrigens nicht Bismarcks Erfindung. Er befolgte nur mit der ihm eigenen Skrupellosigkeit ein altes, allgemeines, wahrhaft Internationales Rezept der bürgerlichen Staatskunst. Wann und wo hat es denn einen Krieg gegeben, seit die sogenannte öffentliche Meinung bei den Rechnungen der Regierungen eine Rolle spielt, in dem nicht jede kriegführende Partei einzig und allein zur Verteidigung des Vaterlandes und der eigenen gerechten Sache vor dem schnöden Überfall des Gegners schweren Herzens das Schwert aus der Scheide zog? Die Legende gehört so gut zum Kriegführen wie Pulver und Blei. Das Spiel ist alt. Neu ist nur, daß eine sozialdemokratische Partei an diesem Spiel teilgenommen hat.

III

Allein noch tiefere Zusammenhänge und gründlichere Einsichten bereiteten unsere Partei darauf vor, das wahre Wesen, die wirklichen Ziele dieses Krieges zu durchschauen und sich von ihm in keiner Hinsicht überraschen zu lassen. Die Vorgänge und Triebkräfte, die zum 4. August 1914 führten, waren keine Geheimnisse. Der Weltkrieg wurde seit Jahrzehnten vorbereitet, in breitester Öffentlichkeit, am hellichten Tage, Schritt für Schritt und Stunde um Stunde. Und wenn heute verschiedene Sozialisten der „Geheimdiplomatie”, die diese Teufelei hinter den Kulissen zusammengebraut hätte, grimmig die Vernichtung ansagen, so schreiben sie den armen Schelmen unverdient geheime Zauberkraft zu, wie der Botokude, der seinen Fetisch für den Ausbruch des Gewitters peitscht. Die sogenannten Lenker der Staatsgeschicke waren diesmal, wie stets, nur Schachfiguren, von übermächtigen historischen Vorgängen und Verlagerungen in der Erdrinde der bürgerlichen Gesellschaft geschoben. Und wenn jemand diese

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[1] Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck ließ am 14. Juli 1870 die von ihm gefälschte Fassung einer Depesche veröffentlichen, die über ein Gespräch Wilhelms I. mit dem französischen Botschafter in Preußen am 13. Juli 1870 in Bad Ems berichtete. Die Emser Depesche provozierte die von Bismarck erhoffte französische Kriegserklärung.