Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 374

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Die geschichtliche Verantwortung

[1]

Nach dem Waffenstillstand ist der Sonderfriede zwischen Deutschland und Rußland nur noch eine Zeitfrage.[2] Die künftige Geschichte wird sicher unter anderen Momentbildern aus dem Weltkriege auch die Grimassen des deutschen Halbabsolutismus festhalten, mit denen er die „Schnorrer und Verschwörer” als „legale Machthaber” anerkennt, feierlich den Grundsatz der Nichteinmischung in fremde Staatsangelegenheiten proklamiert und die Umstürzler an der Newa vor den „Verleumdungen der Entente” in Schutz nimmt. Der Königsberger Prozeß[3], die Spitzelhetze hinter den Russen, die Schergendienste an den Zarismus – alles vergessen. Weshalb auch nicht? Wenn die deutsche Sozialdemokratie das Erfurter Programm vergessen hat, warum soll die deutsche Regierung Bagatellen wie den Königsberger Prozeß nicht vergessen? Das eine bedingt das andere.

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[1] Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. In: Spartakus im Kriege. Die Illegalen Flugblätter des Spartakusbundes im Kriege, gesammelt und eingeleitet von Ernst Meyer, Berlin 1927, wird Rosa Luxemburg als Verfasserin genannt.

[2] Entsprechend dem vom II. Gesamtrussischen Sowjetkongreß am 8. November 1917 beschlossenen Dekret über den Frieden, in dem allen kriegführenden Staaten Verhandlungen über einen gerechten und demokratischen Frieden und als Voraussetzung dafür der sofortige Abschluß eines Waffenstillstandes vorgeschlagen worden waren, begannen am 3. Dezember 1917 in Brest-Litowsk Verhandlungen mit dem deutschen Oberkommando, nachdem die Regierungen der Westmächte Verhandlungen entschieden abgelehnt hatten. Die deutsche Regierung verfolgte das Ziel, einen Separatfrieden zu schließen, den Raub von Gebieten im Osten zu sichern und die Hand frei zu bekommen für verstärkte Kriegsanstrengungen an der Westfront. Die aufbegehrenden Volksmassen in Deutschland sollten durch die scheinbare Friedensbereitschaft der Regierung getäuscht werden.

Am 15. Dezember wurde der Waffenstillstandsvertrag unterzeichnet und die Aufnahme von Friedensverhandlungen für den 22. Dezember vereinbart. Durch den dann am 3. März 1918 unterzeichneten Raubfrieden von Brest-Litowsk verlor Sowjetrußland ein Territorium von ca. einer Million km2. Die Sowjetregierung war im Interesse der Revolution gezwungen, einem solchen Frieden zuzustimmen, um den Völkern Rußlands eine friedliche Atempause zur Festigung der Sowjetmacht and zum Aufbau einer Armee zu schaffen, die in der Lage sein würde, das Land gegen die innere Konterrevolution und die imperialistischen Interventen zu schützen.

[3] Neun deutsche Sozialdemokraten waren in einem Prozeß in Königsberg vom 12. bis 25. Juli 1904 des Hochverrats gegen Rußland, der Beleidigung des Zaren und der Geheimbündelei angeklagt worden, weil sie revolutionäre Literatur nach Rußland befördert hatten. Karl Liebknecht, einer der Verteidiger, prangerte die brutale Unterdrückung in Rußland und die Zusammenarbeit zwischen den preußischen und den zaristischen Behörden an.