Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 265

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Zwei Osterbotschaften

[1]

Das grandiose welthistorische Drama an der Newa entbehrt nicht eines grotesk-heiteren Nebenspiels – an der Spree. Unter dem Eindruck der russischen Revolution[2] fängt Preußen-Deutschland an, sich zu „modernisieren”. Und was wird da an „Neuorientierung” zutage gefördert? Ein Rest Jesuitengesetz[3] und der famose Sprachenparagraph des Vereinsgesetzes[4] werden abgeschafft! Also ein Vermächtnis aus Bismarcks seligen Zeiten der Ausnahmegesetze von 1872 und ein anderes aus den schönen Zeiten des Bülowschen Hottentottenblocks[5], das ist’s, womit Deutschland heute mit Stolz aufräumt! Ja, und nicht zu vergessen, die kaiserliche Osterbotschaft[6] hat ja auch noch versprochen, nach dem Kriege, so Gott gibt und das deutsche Volk sich weiter brav aufführt, sogar irgendein Pluralwahlrecht[7] zum preußischen Abgeordnetenhaus zu schenken und das preußische

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[1] Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. Nach Auskunft von Rudolf Lindau, einem Mitbegründer der KPD, ist Rosa Luxemburg die Verfasserin.

[2] Durch die Revolution im Februar 1917 in Rußland wurde der Zarismus gestürzt. Da keine Klasse über die ganze Macht verfügte, bildete sich eine Doppelherrschaft heraus. Die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft wurde verwirklicht durch den Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten, dessen Vorsitzender der Menschewik N. S. Tschchéidse war, und die Diktatur der Bourgeoisie in Form der Provisorischen Regierung, die von dem Fürsten G. J. Lwow geführt wurde. Als Außenminister gehörten ihr an der Führer der Kadetten, P. N. Miljukow, und als Kriegs- und Marineminister der Führer der Oktobristen, A. J. Gutschkow.

[3] Das im Juni 1872 vom Reichstag beschlossene Ausnahmegesetz verbot die Tätigkeit des Jesuiten-ordens und verwandter Orden und Kongregationen auf dem Gebiet des Deutschen Reiches. Das sogenannte Jesuitengesetz wurde am 13. April 1917 vom Bundesrat aufgehoben.

[4] Durch Beschluß des Bundesrats vom 19. April 1917 wurde der Paragraph 12 des Reichsvereins-gesetzes von 1908, wonach der Gebrauch nichtdeutscher Sprachen in öffentlichen Versammlungen nicht gestattet war, aufgehoben.

[5] Unter Leitung des Reichskanzlers Bernhard von Bülow war der Wahlkampf zu den Reichstagswahlen am 25. Januar 1907 durch eine Hetzkampagne gegen alle oppositionellen Kräfte, besonders gegen die Sozialdemokratie, und durch chauvinistische Propaganda für die Weiterführung des Kolonialkrieges gegen die Hereros und Hottentotten in Afrika gekennzeichnet. (Im Jahre 1904 hatte sich in Südwestafrika das Volk der Hereros gegen die Kolonialherrschaft des deutschen Imperialismus erhoben. Die deutschen Kolonialtruppen hatten bei ihrem Unterdrückungsfeldzug auf Befehl des Generals Lothar von Trotha die Eingeborenen in die Wüste getrieben, von den Wasservorkommen abgeschnitten und damit einem grausamen Tod ausgeliefert.) Trotz der größten Stimmenzahl erhielt die Sozialdemokratie auf Grund der veralteten Wahlkreiseinteilung sowie der Stichwahlbündnisse der bürgerlichen Parteien gegen die Sozialdemokraten nur 43 Mandate gegenüber 81 im Jahre 1903. – Nach den Reichstagswahlen von 1907 hatten sich die Konservativen, die Nationalliberalen und die Linksliberalen zum Bülow-Block, auch Hottentottenblock genannt, zusammengeschlossen. Gestützt auf diesen Block, war es Reichskanzler Bernhard von Bülow möglich, im Reichstag eine Reihe reaktionärer Gesetze und Maßnahmen durchzusetzen.

[6] Wilhelm II. hatte in einem Erlaß vom 7. April 1917 für die Zeit nach dem Krieg eine Reform des preußischen Wahlrechts sowie einige Verfassungsänderungen angekündigt, um die wachsende Unzufriedenheit der Massen zu beschwichtigen.

[7] Das Pluralwahlrecht ist ein undemokratisches Wahlrecht, bei dem die Wähler mit besonderen Voraussetzungen, wie hohem Einkommen, höherer Schulbildung usw., mehr als eine Stimme abgeben können.