Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 407

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-4/seite/407

Die Nationalversammlung

Von der „Deutschen Tageszeitung”, der „Vossischen” und dem „Vorwärts” bis zur unabhängigen „Freiheit”, von Reventlow, Erzberger, Scheidemann bis Haase und Kautsky ertönt ein einmütiger Ruf nach der Nationalversammlung und ein ebenso einmütiger Angstschrei vor der Idee: die Macht in die Hände der Arbeiterklasse.

Das ganze „Volk”, die ganze „Nation” soll dazu berufen werden, über die weiteren Schicksale der Revolution durch Mehrheitsbeschluß zu entscheiden.

Bei den offenen und verkappten Agenten der herrschenden Klassen ist die Parole selbstverständlich. Mit Wächtern der kapitalistischen Kassenschränke diskutieren wir weder in der Nationalversammlung noch fiber die Nationalversammlung.

Aber auch unabhängige Führer stellen sich in dieser entscheidenden Frage mit den Wächtern des Kapitals in Reih und Glied.

Sie wollen der Revolution, wie Hilferding in der „Freiheit” darlegt[1], auf diese Weise die Gewaltanwendung, den Bürgerkrieg mit all seinen Schrecken ersparen. Kleinbürgerliche Illusionen! Sie stellen sich den Verlauf der gewaltigsten sozialen Revolution, seit die Menschheit besteht, in der Form vor, daß verschiedene Gesellschaftsklassen zusammenkommen, eine schöne ruhige und „würdige” Diskussion miteinander pflegen, sodann eine Abstimmung – vielleicht noch mit dem berühmten „Hammelsprung”[2] – veranstalten. Wenn dann die Kapitalistenklasse sieht, daß sie

Nächste Seite »



[1] Siehe R. H. : Revolutionäres Vertrauen! In: Die Freiheit (Berlin), Nr. 6 vom 18. November 1918.

[2] Der sogenannte Hammelsprung war ein Abstimmungsverfahren im Parlament, bei dem die Abstimmenden den Raum verlassen mußten und ihn durch drei verschiedene Türen – jeweils für Ja, Nein und Stimmenthaltung – wieder betraten und dabei gezählt wurden.