Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 406

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Man nehme ein beliebiges Geschichtsbuch der Großen Französischen Revolution, man nehme den trockenen Mignet. Kann man dieses Buch anders als mit klopfenden Pulsen und brennender Stirn lesen, kann man es aus der Hand legen, wenn man es an beliebiger Stelle aufgeschlagen, bevor man in atemloser Spannung den letzten Akkord des gewaltigen Geschehens hat ausklingen hören? Es ist wie eine Beethovensche Symphonie ins Gigantische gesteigert, ein brausender Sturm auf der Orgel der Zeiten, groß und prächtig im Irrtum wie im Gelingen, im Sieg wie in der Niederlage, im ersten naiven Aufjubeln wie im letzten verhallenden Seufzer. Und jetzt bei uns in Deutschland? Auf Schritt und Tritt, im Kleinen wie im Großen spürt man: Es sind noch die alten braven Genossen aus den Zeiten der selig entschlafenen deutschen Sozialdemokratie, für die das Mitgliedsbüchlein alles, der Mensch und der Geist nichts war. Vergessen wir aber nicht: Weltgeschichte wird nicht gemacht ohne geistige Größe, ohne sittliches Pathos, ohne edle Geste.

Liebknecht und ich haben beim Verlassen der gastlichen Räume, worin wir jüngst hausten – er seinen geschorenen Zuchthausbrüdern, ich meinen lieben armen Sittenmädchen und Diebinnen, mit denen ich dreieinhalb Jahre unter einem Dach verlebt habe –, wir haben ihnen heilig versprochen, als sie uns mit traurigen Blicken begleiteten: Wir vergessen euch nicht!

Wir fordern vom Vollzugsrat des Arbeiter- und Soldatenrates eine sofortige Linderung des Schicksals der Gefangenen in allen Strafanstalten Deutschlands!

Wir fordern die Ausmerzung der Todesstrafe aus dem deutschen Strafkodex!

Blut ist in den vier Jahren des imperialistischen Völkermordes in Strömen, in Bächen geflossen. Jetzt muß jeder Tropfen des kostbaren Saftes mit Ehrfurcht in kristallenen Schalen gehütet werden. Rücksichtsloseste revolutionäre Tatkraft und weitherzigste Menschlichkeit – dies allein ist der wahre Odem des Sozialismus. Eine Welt muß umgestürzt werden, aber jede Träne, die geflossen ist, obwohl sie abgewischt werden konnte, ist eine Anklage, und ein zu wichtigem Tun eilender Mensch, der aus roher Unachtsamkeit einen armen Wurm zertritt, begeht ein Verbrechen.

Die Rote Fahne (Berlin),

Nr. 3 vom 18. November 1918.

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