Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 20

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Der Wiederaufbau der Internationale

[1]

I

Am 4. August 1914 hat die deutsche Sozialdemokratie politisch abgedankt, und gleichzeitig ist die sozialistische Internationale zusammengebrochen. Alle Versuche, diese Tatsache zu leugnen, zu verschleiern oder zu beschönigen, haben, gleichviel aus welchen Motiven sie hervorgehen mögen, objektiv nur die Tendenz, jene fatalen Selbsttäuschungen der sozialistischen Parteien, jene inneren Gebrechen der Bewegung, die zum Zusammenbruch geführt hatten, zu verewigen, zum bewußten Normalzustand zu erheben, die sozialistische Internationale auf die Dauer zur Fiktion, zur Heuchelei zu machen.

Der Zusammenbruch selbst ist ein in der Geschichte aller Zeiten beispielloser. Begeisterte Sozialimperialisten in Deutschland versteigen sich in ihren zügellosen Delirien Neubekehrter zu der Behauptung, der gegenwärtige Krieg gleiche in seiner umwälzenden weltgeschichtlichen Bedeutung der Völkerwanderung. Wir vermögen nicht zu ermessen, ob diese patriotische Hyperbel stimmt. Jedenfalls aber wird einst der Historiker als die frappanteste weltgeschichtliche Tatsache dieses Krieges zweifellos das völlige Versagen des Proletariats als Klasse, der Sozialdemokratie als seiner Führerin verzeichnen müssen.

Sozialismus oder Imperialismus – diese Alternative war die erschöpfende Zusammenfassung der politischen Orientierung der Arbeiterparteien im letzten Jahrzehnt. Sie wurde namentlich in Deutschland in zahllosen Programmreden, Volksversammlungen, Broschüren und Zeitungsartikeln als die Losung der Sozialdemokratie, als ihre Auffassung der gegenwärtigen Geschichtsphase und deren Tendenz formuliert.

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[1] Diese Arbeit wird nach dem handschriftlichen Manuskript Rosa Luxemburgs veröffentlicht. Es ergeben sich dadurch einige Abweichungen von der bisher bekannten, redigierten Fassung, wie sie veröffentlicht wurde in „Die Internationale”, Heft 1 vom 15. April 1915.