Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 21

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Mit dem Ausbruch des heutigen Weltkrieges ist das Wort zum Fleische, die Alternative aus einer geschichtlichen Tendenz zur politischen Situation geworden. Gestellt vor diese Alternative, die sie zuerst erkannt und zum Bewußtsein der Volksmassen gebracht hatte, strich die Sozialdemokratie die Segel, räumte kampflos dem Imperialismus den Sieg ein. Noch nie, seit es eine Geschichte der Klassenkämpfe, seit es politische Parteien gibt, hat es eine Partei gegeben, die in dieser Weise, nach fünfzigjährigem unaufhörlichem Wachstum, nachdem sie sich eine Machtstellung ersten Ranges erobert, nachdem sie Millionen um sich geschart hatte, sich binnen vierundzwanzig Stunden so gänzlich als politischer Faktor in blauen Dunst aufgelöst hatte wie die deutsche Sozialdemokratie. An ihr, gerade weil sie der bestorganisierte, bestdisziplinierte, geschulteste Vortrupp der Internationale war, läßt sich der heutige Zusammenbruch des Sozialismus am klassischsten nachweisen.

Kautsky, der als Vertreter des sogenannten „marxistischen Zentrums” oder, politisch gesprochen, als der Theoretiker des Sumpfes schon seit Jahren die Theorie zur willfährigen Magd der offiziellen Praxis der „Parteiinstanzen” degradiert und dadurch zu dem heutigen Zusammenbruch der Partei redlich beigetragen hat, hat auch jetzt schon eine neue Theorie gerade zur Rechtfertigung und Beschönigung des Zusammenbruchs zurechtgedacht.[1] Danach soll die Sozialdemokratie zwar ein Instrument des Friedens, aber kein Mittel gegen den Krieg sein. Oder, wie Kautskys getreue Schüler im österreichischen „Kampf” mit vielen Seufzern über die heutigen Verirrungen der deutschen Sozialdemokratie dekretieren, die einzige Politik, die dem Sozialismus während des Krieges gezieme, sei „das Schweigen”; erst wenn die Friedensglocken läuten, beginne er wieder in Funktion zu treten.[2] Diese Theorie des freiwillig übernommenen Eunuchentums, die die Tugend des Sozialismus nur dadurch wahren zu können glaubt, daß sie ihn in den entscheidenden Momenten der Weltgeschichte als Faktor ausschaltet, leidet am Grundfehler aller Rechnungen der politischen Impotenz: daß sie nämlich ohne den Wirt gemacht ist.

Gestellt vor die Alternative: für oder gegen den Krieg, ist die Sozialdemokratie in dem Augenblick, wo sie das „Gegen” preisgegeben hat, durch der Geschichte ehernes Muß gezwungen worden, ihr volles Gewicht

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[1] Siehe K. Kautsky: Die Sozialdemokratie Im Kriege. In: Die Neue Zeit (Stuttgart), 33. Jg. 1914/15, Erster Band, S. 1–8, und K. Kautsky: Die Internationalität und der Krieg. In: Ebenda. S. 225–250.

[2] Siehe den Artikel Fr. Adlers im Januarheft des „Kampfes”. [Friedrich Adler: Die Sozialdemokratie in Deutschland und der Krieg. In: Der Kampf. Sozialdemokratische Monatsschrift, Jg. VIII, 1. Januar 1915, H. 1.]. [Fußnote im Original]