Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 22

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für den Krieg in die Waagschale zu werfen. Derselbe Kautsky, der in der denkwürdigen Fraktionsberatung des 3. August für die Bewilligung der Kredite plädierte[1], und dieselben „Austromarxisten” (wie sie sich selbst nennen), die auch jetzt im „Kampf” die Bewilligung der Kriegskredite durch die sozialdemokratische Fraktion als eine Selbstverständlichkeit hinnehmen, vergießen gelegentlich Tränen über die nationalistischen Exzesse der sozialdemokratischen Parteiorgane und über die ungenügende theoretische Schulung, namentlich in der haarscharfen Zerspaltung des Begriffes „Nationalität” und anderer „Begriffe”, die angeblich an jenen Verirrungen schuld sei. Aber die Dinge haben ihre Logik, auch wo die Menschen sie nicht haben wollen. Nachdem die Sozialdemokratie sich mit ihrer parlamentarischen Vertretung für die Unterstützung des Krieges entschieden hatte, wickelte sich alles andere von selbst mit der Unabwendbarkeit des historischen Geschickes ab. Mit dem 4. August hat die deutsche Sozialdemokratie, weit entfernt zu „schweigen”, eine hochwichtige geschichtliche Funktion übernommen: die des Schildknappen des Imperialismus im gegenwärtigen Kriege. Napoleon sagte einmal, zwei Faktoren entscheiden über den Ausgang einer Schlacht, der „irdische” Faktor, als da sind Terrain, Beschaffenheit der Waffen, atmosphärische Wirkungen usw„ und der „göttliche” Faktor, d. h. die moralische Verfassung des Heeres, seine Begeisterung, sein Glaube an die eigene Sache. Für den „irdischen” Faktor im gegenwärtigen Kriege sorgte auf deutscher Seite am meisten die Firma Krupp in Essen, der „göttliche” kommt in erster Linie auf das Konto der Sozialdemokratie. Die Dienste, die diese der deutschen Kriegführung seit dem 4. August geleistet hat und jeden Tag leistet, sind unermeßlich. Die Gewerkschaften, die mit dem Ausbruch des Krieges alle Lohnkämpfe an den Nagel gehängt, später Arbeitskräfte im Überfluß an die Agrarier zur Erledigung der Ernte geliefert haben, die alle Sicherheitsmaßnahmen der Militärbehörden zur Verhütung von Volksunruhen mit dem Nimbus des „Sozialismus” umgeben und gegenwärtig ihre Mitglieder zur glatten Verteilung der Brotrationen kommandieren; die sozialdemokratischen Frauen, die Arm in Arm mit bürgerlichen Patriotinnen Bettelsuppen austeilen und ihre ganze Zeit und Kraft der sozialdemokratischen Agitation entziehen, um sie zur Beschwichtigung und Erheiterung der Kriegerfamilien zu verwenden; die sozialdemokratische Presse, die

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[1] Auf der Sitzung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion am Nachmittag des 3. August 1914, an der neben den Mitgliedern des Parteivorstandes auch Karl Kautsky als Chefredakteur der „Neuen Zeit” teilnahm, wurde mit 78 gegen 14 Stimmen beschlossen, den Kriegskrediten zuzustimmen. Kautsky hatte vorgeschlagen, die Kredite zu bewilligen, wenn die Regierung die Versicherung gäbe, keine territorialen Eroberungen zu machen. Sein Vorschlag wurde zurückgewiesen.