Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 23

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mit etwa 5 bis 6 Ausnahmen ihre 95 Tageblätter, Wochen- und Monatsschriften dazu gebraucht, um die Kunde von den Siegen der deutschen Waffen in ihrem ganzen Glanze in die breitesten Volksschichten zu tragen, um alle strategischen Orientierungen der Militärbehörden kommentarlos zu verbreiten, um aus eigenem den Krieg als nationale Sache und Sache des Proletariats zu propagieren, um je nach der Wendung des Krieges die Russengefahr und die Greuel der Zarenregierung auszumalen, das perfide Albion dem Hasse des Volkes preiszugeben, über die Aufstände und Revolutionen in fremden Kolonien zu jubeln, die Wiedererstarkung der Türkei nach diesem Kriege zu prophezeien, den Polen, Ruthenen und allen Völkern die Freiheit zu versprechen, der proletarischen Jugend kriegerische Tapferkeit und Heldenmut beizubringen, kurz, die öffentliche Meinung und die Volksmasse vollkommen für die Ideologie des Krieges zu bearbeiten; die sozialdemokratischen Parlamentarier und Parteiführer endlich, die nicht bloß Geldmittel für die Kriegführung bewilligen, sondern jede beunruhigende Regung des Zweifels und der Kritik, alle „Quertreibereien” in den Volksmassen schneidig zu ersticken suchen, ihrerseits aber durch persönliche Dienste diskreter Natur wie durch Broschüren, Reden und Artikel von echtestem deutsch-nationalem Patriotismus die Regierung unterstützen – wo war ein Krieg in der Weltgeschichte, in dem Ähnliches geschah?

Wo und wann ist die Aufhebung aller Verfassungsrechte mit solcher Selbstverständlichkeit und Ergebung hingenommen worden? Wo ist je der strengsten Pressezensur aus den Reihen der Opposition ein solcher Hymnus gesungen worden wie in einem Blatte der deutschen Sozialdemokratie? Noch nie hat ein Krieg solche Pindare, nie eine Militärdiktatur solche Mamelucken gefunden, nie hat eine politische Partei alles, was sie war und besaß, so inbrünstig auf dem Altar einer Sache hingegeben, gegen die bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen sie sich und der Welt tausendmal schwor. Die Nationalliberalen sind römische Catos, Rochers de bronze, verglichen mit dieser Wandlung. Gerade die mächtige Organisation, gerade die vielgepriesene Disziplin der deutschen Sozialdemokratie bewährten sich darin, daß der vier Millionen starke Körper sich auf Kommando einer Handvoll Parlamentarier in vierundzwanzig Stunden wenden und vor einen Wagen spannen ließ, gegen den Sturm zu laufen sein Lebensziel war. Die fünfzigjährige Vorbereitungsarbeit der Sozialdemokratie realisiert sich im heutigen Kriege, dessen Wucht und siegreiche Kraft auf deutscher Seite von den Gewerkschaften wie von Parteiführern in hohem Maße als Frucht der „Schulung” der Massen in den proletari-

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