Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 121

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Armee gegen einen Nachbarn mobilisieren müssen, mit dem sie auf so vielen Schlachtfeldern gemeinsam gefochten hat. Mit aufrichtigem Leid sah Ich eine von Deutschland treu bewahrte Freundschaft zerbrechen.” Das war schlicht, offen und ehrlich. Die sozialdemokratische Fraktion und die Presse hatte dies in einen Artikel der „Neuen Rheinischen Zeitung” umstilisiert. Als nun die Rhetorik der ersten Kriegswochen durch den prosaischen Lapidarstil des Imperialismus weggescheucht wurde, löste sich die einzige schwache Erklärung für die Haltung der deutschen Sozialdemokratie in Dunst auf.

VI

Die andere Seite in der Haltung der Sozialdemokratie war die offizielle Annahme des Burgfriedens, d. h. die Einstellung des Klassenkampfes für die Dauer des Krieges. Die im Reichstag am 4. August verlesene Fraktionserklärung war selbst der erste Akt dieser Preisgabe des Klassenkampfes: Ihr Wortlaut war im voraus mit den Vertretern der Reichsregierung und der bürgerlichen Parteien vereinbart, der feierliche Akt des 4. August war ein hinter den Kulissen vorbereitetes patriotisches Schaustück fürs Volk und für das Ausland, in dem die Sozialdemokratie bereits die von ihr übernommene Rolle neben anderen Teilnehmern spielte.

Die Bewilligung der Kredite durch die Fraktion gab das Stichwort allen leitenden Instanzen der Arbeiterbewegung. Die Gewerkschaftsführer veranlaßten sofort die Einstellung aller Lohnkämpfe und teilten dies ausdrücklich unter Berufung auf die patriotischen Pflichten des Burgfriedens den Unternehmern offiziell mit. Der Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung wurde für die Dauer des Krieges freiwillig aufgegeben. Dieselben Gewerkschaftsführer übernahmen die Lieferung städtischer Arbeitskräfte an die Agrarier, um ihnen die ungestörte Einholung der Ernte zu sichern. Die Leitung der sozialdemokratischen Frauenbewegung proklamierte die Vereinigung mit bürgerlichen Frauen zum gemeinsamen „nationalen Frauendienst”, um die wichtigste nach der Mobilmachung im Lande gebliebene Arbeitskraft der Partei statt zur sozialdemokratischen Agitation zu nationalen Samariterdiensten, wie Verteilung von Suppen, Erteilung von Rat usw„ zu kommandieren. Unter dem Sozialistengesetz hatte die Partei am meisten die Parlamentswahlen ausgenützt, um allen Belagerungszuständen und Verfolgungen der sozialdemokratischen Presse zum Trotz Aufklärung zu verbreiten und ihre Position zu behaupten. Jetzt verzichtete die Sozialdemokratie bei den Parlamentsnachwahlen zum

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