Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 120

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wende. Alle seine politischen und geschichtlichen Perspektiven waren an den Vorbehalt geknüpft: „sofern nicht inzwischen in Rußland die Revolution ausbricht.” Marx glaubte an die russische Revolution und erwartete sie, selbst als er noch das leibeigene Rußland vor den Augen hatte. Die Revolution war inzwischen gekommen. Sie hatte nicht auf den ersten Schlag gesiegt, aber sie ist nicht mehr zu bannen, sie steht auf der Tagesordnung, sie richtete sich gerade wieder auf. Und da rücken plötzlich deutsche Sozialdemokraten mit „deutschen Gewehrkolben” an und erklären die russische Revolution für null und nichtig, sie streichen sie aus der Geschichte. Sie haben plötzlich die Register von 1848 hervorgezogen: Es lebe der Krieg gegen Rußland! Aber im Jahre 1848 war in Deutschland Revolution, in Rußland starre, hoffnungslose Reaktion. Im Jahre 1914 hingegen hatte Rußland die Revolution im Leibe, in Deutschland aber herrschte das preußische Junkertum. Nicht von deutschen Barrikaden, wie Marx 1848, sondern direkt aus dem Pandurenkeller, wo sie ein kleiner Leutnant eingesperrt hielt, rückten die deutschen „Befreier Europas” zu ihrer Kulturmission gegen Rußland aus! Sie rückten aus – brüderlich umarmt, ein einig Volk mit dem preußischen Junkertum, das der stärkste Hort des russischen Zarismus ist; mit den Ministern und Staatsanwälten von Königsberg „burgfriedlich” umarmt, rückten sie gegen den Zarismus aus und schmetterten die „Gewehrkolben” – den russischen Proletariern auf den Schädel!

Eine blutigere historische Posse, eine brutalere Verhöhnung der russischen Revolution und des Vermächtnisses von Marx läßt sich kaum denken. Sie bildet die dunkelste Episode in dem politischen Verhalten der Sozialdemokratie während des Krieges.

Eine Episode sollte nämlich die Befreiung der europäischen Kultur doch nur werden. Die unbequeme Maske wurde von dem deutschen Imperialismus gar bald gelüftet, die Front wendete sich offen gegen Frankreich und namentlich gegen England. Ein Teil der Parteipresse machte auch diese Wendung hurtig mit. Er begann statt des Blutzaren das perfide Albion und seinen Krämergeist der allgemeinen Verachtung preiszugeben und die Kultur Europas statt von dem russischen Absolutismus von der englischen Seeherrschaft zu befreien. Die heillos verworrene Situation, in die sich die Partei begeben hat, konnte sich indes nicht greller äußern als in den krampfhaften Versuchen des besseren Teils der Parteipresse, der, erschreckt durch die reaktionäre Front, sich partout bemühte, den Krieg zurückzudrängen auf das ursprüngliche Ziel, auf das „Vermächtnis unserer Meister” festzunageln, d. h. auf einen Mythus, den sie selbst, die Sozialdemokratie, geschaffen hatte! „Mit schwerem Herzen habe Ich Meine

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