Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 119

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sacher. Sie halfen dem Zarismus zu dem populärsten Krieg, den Rußland seit einem Jahrhundert hatte. Alles wirkte diesmal für den moralischen Nimbus der russischen Regierung: die für jedermann außerhalb Deutschlands sichtbare Provokation des Krieges durch Wien und Berlin, der „Burgfrieden” in Deutschland und das durch ihn entfesselte Delirium des Nationalismus, das Schicksal Belgiens, die Notwendigkeit, der französischen Republik beizuspringen – nie hatte der Absolutismus eine so unerhört günstige Stellung in einem europäischen Kriege. Die hoffnungsvoll aufflatternde Fahne der Revolution ging im wilden Strudel des Krieges unter, aber sie sank mit Ehren, und sie wird wieder aus dem wüsten Gemetzel aufflattern – trotz der „deutschen Gewehrkolben”, trotz Sieg und trotz Niederlage des Zarismus auf den Schlachtfeldern.

Auch die nationalen Aufstände in Rußland versagten. Die „Nationen” haben sich offenbar durch die Befreiermission der Hindenburgschen Kohorten weniger ködern lassen als die deutsche Sozialdemokratie. Die Juden, ein praktisches Volk, wie sie sind, mochten sich das einfache Rechenexempel an den Fingern abzählen, daß die „deutschen Fäuste”, die es nicht einmal fertiggebracht haben, ihre eigene preußische Reaktion, z. B. das Dreiklassenwahlrecht, zu „zerschmettern”, wohl wenig tauglich sind, den russischen Absolutismus zu zerschmettern. Die Polen, der dreifachen Hölle des Krieges preisgegeben, konnten zwar ihren „Befreiern” aus Wreschen, wo polnischen Kindern das deutsche Vaterunser mit blutigen Striemen auf den Körper eingebläut wurde[1], und aus den preußischen Ansiedlungskommissionen[2] auf die verheißende Heilsbotschaft nicht laut antworten; sie dürften aber im stillen den deutschen Kernspruch Götz von Berlichingens in ein noch kernigeres Polnisch übersetzt haben. Alle, Polen, Juden wie Russen, haben wohl gar bald die einfache Wahrnehmung gemacht, daß „deutsche Gewehrkolben”, mit denen man ihnen die Schädel zerschmettert, ihnen nicht die Freiheit, sondern den Tod bringen.

Die Befreiungslegende der deutschen Sozialdemokratie mit dem Vermächtnis von Marx in diesem Kriege ist aber mehr als ein übler Spaß: Sie ist eine Frivolität. Für Marx war die russische Revolution eine Welt-

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[1] In Wreschen, einer Kreisstadt der damaligen Provinz Posen, waren am 20. Mai 1901 polnische Kinder von einem Lehrer schwer mißhandelt worden, weil sie im Unterricht Fragen nicht in deutscher Sprache hatten beantworten wollen. Die empörten Eltern wurden daraufhin wegen „Landfriedensbruchs” zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt.

[2] Die sogenannte Ansiedlungskommission, die ihre Tätigkeit auf der Grundlage des 1886 beschlossenen und 1893 und 1902 verschärften Ansiedlungsgesetzes ausübte, wonach Millionen von Mark zur „Stärkung des deutschen Elements in den Provinzen Westpreußen und Posen” bereitgestellt wurden, sollte polnische Güter mit staatlichen Mitteln aufkaufen, die dem deutschen Großgrundbesitz überlassen oder parzelliert an deutsche Ansiedler vergeben werden sollten.