Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 118

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tion, sondern auch der westeuropäischen sind, daß sie sich heute genau wie die Märzkämpfer 1848 nicht bloß gegen die Reaktion im eigenen Lande, sondern auch gegen ihren „Hort” im Auslande die Schädel blutig rennen.

Doch der lebendige Born der revolutionären Energie im russischen Proletariat ist so unerschöpflich wie der Kelch ihrer Leiden unter dem doppelten Knutenregiment des Zarismus und des Kapitals. Nach einer Periode des unmenschlichsten Kreuzzugs der Konterrevolution begann die revolutionäre Gärung von neuem. Seit 1911, seit der Lenametzelei[1] raffte sich die Arbeitermasse wieder zum Kampfe auf, die Flut begann zu steigen und zu schäumen. Die ökonomischen Streiks umfaßten in Rußland nach den offiziellen Berichten 1910 46 623 Arbeiter und 256 385 Tage, 1911 96 730 Arbeiter und 768 556 Tage, in den ersten 5 Monaten 1912 98 771 Arbeiter und 1 214 881 Tage. Die politischen Massenstreiks, Protestaktionen, Demonstrationen umfaßten 1912 1 005 000 Arbeiter, 1913 1 272 000. Im Jahre 1914 stieg die Flut mit dumpfem Murmeln immer drohender und höher. Am 22. Januar, zur Feier des Revolutionsbeginns, gab es einen Demonstrationsmassenstreik von 200 000 Arbeitern. Im Juni schlug ganz wie vor dem Ausbruch der Revolution von 1905 die große Stichflamme im Kaukasus, in Baku, in die Höhe. 40 000 Arbeiter standen hier im Massenstreik. Die Flamme sprang sofort nach Petersburg über: Am 17. Juli streikten hier 80 000, am 20. Juli 200 000 Arbeiter, am 23. Juli begann der Generalstreik sich auf das ganze russische Reich auszubreiten, Barrikaden wurden bereits errichtet, die Revolution war auf dem Marsche. Noch einige Monate, und sie zog sicher mit wehenden Fahnen ein. Noch einige Jahre, und sie konnte vielleicht den Zarismus so lahmlegen, daß er zu dem für 1916 geplanten imperialistischen Tanz aller Staaten nicht mehr hätte dienen können. Vielleicht wäre dadurch die ganze weltpolitische Konstellation geändert, dem Imperialismus ein Strich durch die Rechnung gemacht.

Aber die deutsche Reaktion machte umgekehrt wieder einen Strich durch die revolutionären Rechnungen der russischen Bewegung. Von Wien und Berlin wurde der Krieg entfesselt, und er begrub die russische Revolution unter den Trümmern – vielleicht wieder für Jahre. „Die deutschen Gewehrkolben” zerschmetterten nicht den Zarismus, sondern seinen Wider-

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[1] Am 29. Januar 1912 war in einer Grube der Lena Goldfields Co. Limited ein Streik ausgebrochen, der, geführt von den Bolschewiki, in den Generalstreik von 6000 Arbeitern überging. Die Arbeiter forderten u. a. die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen und den Achtstundentag. Als am 4. April 1912 die Arbeiter die Freilassung des verhafteten Streikkomitees forderten, eröffnete Militär das Feuer, tötete 250 Arbeiter und verwundete 270. Gegen dieses Blutbad fanden im ganzen Land Proteststreiks statt.