Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 460

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Nationalversammlung oder Räteregierung?

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So lautet der zweite Punkt der Tagesordnung der Reichsversammlung der A.- u. S.-Räte[2], und so ist in Wirklichkeit die Kardinalfrage der Revolution in diesem Augenblick gestellt. Entweder Nationalversammlung oder die ganze Macht den A.- u. S.-Räten, entweder Verzicht auf den Sozialismus oder schärfster Klassenkampf im vollen Rüstzeug des Proletariats gegen die Bourgeoisie: Das ist das Dilemma.

Ein idyllischer Plan dies: auf parlamentarischem Wege, durch einfachen Mehrheitsbeschluß den Sozialismus zu verwirklichen! Schade, daß diese himmelblaue Phantasie aus dem Wolkenkuckucksheim nicht einmal mit der geschichtlichen Erfahrung der bürgerlichen Revolution, geschweige mit der Eigenart der proletarischen Revolution rechnet.

Wie standen die Dinge in England? Dort ist die Wiege des bürgerlichen Parlamentarismus, dort hat er sich am frühesten, am kraftvollsten entfaltet. Als im Jahre 1649 die Stunde der ersten modernen bürgerlichen Revolution in England geschlagen hatte, blickte das englische Parlament bereits auf eine mehr als dreihundertjährige Geschichte zurück. Das Parlament wurde denn auch vom ersten Augenblick der Revolution’an zu ihrem Mittelpunkt, Bollwerk, ihrem Hauptquartier. Das berühmte Lange Parlament, das alle Phasen der englischen Revolution, vom ersten Geplänkel zwischen der Opposition und der königlichen Macht bis zum Prozeß und zur Hinrichtung Karl Stuarts, im eigenen Schoße ausgetragen hat, dieses Parlament war ein unübertreffliches, gefügiges Werkzeug in den Händen der aufstrebenden Bourgeoisie.

Und was ergab sich? Dieses selbe Parlament mußte sich ein besonderes „parlamentarisches Heer” schaffen, das von ihm aus seinem Schoße ge-

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[1] Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. Clara Zetkin nennt in ihrer Arbeit „Um Rosa Luxemburgs Stellung zur russischen Revolution” (Hamburg 1922) Rosa Luxemburg als Verfasserin.

[2] Vom 16. bis 21. Dezember 1918 tagte in Berlin der 1. Allgemeine Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands, auf dem die Vertreter der SPD dominierten. Mit der Zustimmung, am 19. Januar 1919 die Wahlen zu einer Nationalversammlung durchzuführen, die die weitere Regelung übernehmen sollte, und der Wahl eines Zentralrats der Arbeiter- und Soldatenräte, dem nur das Recht zugebilligt wurde, wichtige Gesetzesvorlagen der Regierung zu beraten, entschied dieser Kongreß in der Grundfrage der Revolution, Rätemacht oder bürgerliche Nationalversammlung, zugunsten des bürgerlichen Staates.