Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 215

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Liebknecht

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Das Unglaubliche ist also Ereignis geworden: Die Regierung hat es gewagt, das Schandurteil gegen Liebknecht noch zu verschärfen und zum Zuchthaus auch noch die Aberkennung der Ehrenrechte, d. h. des Reichstags- und Landtagsmandats, hinzuzufügen![2] Die Rache ist süß, namentlich wenn sie so bequem ist, wenn der Gegner an Händen und Füßen gefesselt und das Duell in die Komödie einer „Gerichtsverhandlung” unter Ausschluß der Öffentlichkeit verkleidet ist. Denn es ist klar: Das furchtbare Urteil ist nicht die „Strafe” allein für Liebknechts Beteiligung an der Maidemonstration, es ist Vergeltung für sein ganzes Auftreten im Reichs- und Landtag, wo er als einziger vor aller Welt der blutigen Farce des Burgfriedens die Maske vom Gesicht riß, Vergeltung auch für seine Haltung in der Arrestantenzelle und im Gerichtssaal, wo der Gefesselte seinen Schergen trotzte, sie moralisch züchtigte und zum revolutionären Glauben, zum Internationalen Sozialismus fest und unerschütterlich stand wie eine Eiche.

Niemals hätten jedoch die Machthaber gewagt, ein solches Schandurteil zu fällen, wären sie nicht seit Ausbruch des Krieges gewöhnt, daß deutsche Sozialdemokraten kuschen. Weil sie die Sozialdemokratie seit zwei Jahren als Schutztruppe und Handlangerin der Regierung betrachten, fielen sie mit schäumender Wut über denjenigen her, der aufrecht blieb.

Denn was tat Liebknecht? Er tat nur, was die Resolutionen der Internationalen Kongresse, was das Programm, die Parteitagsbeschlüsse, die Grundsätze, die Traditionen allen Sozialisten zur Pflicht machen. Im Geiste und im Sinne dieser Grundsätze, dieser Resolutionen handelte Liebknecht. Wenn das, was er tat, „Landesverrat” ist, dann haben sich

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[1] Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. In: Spartakusbriefe. Hrsg. von der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund), Berlin 1920, ist Rosa Luxemburg als Verfasserin angegeben.

[2] Die Verhandlung erster Instanz gegen Karl Liebknecht fand am 28. Juni 1916 vor dem Kommandanturgericht Berlin statt. Das Urteil lautete auf 2 Jahre 6 Monate und 3 Tage Zuchthaus. Das Urteil zweiter Instanz, gefällt vom Oberkriegsgericht Berlin am 23. August 1916, lautete auf 4 Jahre 1 Monat Zuchthaus und Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte für 6 Jahre. Dieses Urteil wurde in letzter Instanz am 4. November 1916 vom Reichsmilitärgericht bestätigt und damit rechtskräftig.