Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 216

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sämtliche deutsche Delegierte auf den Kongressen und Parteitagen, die für jene Resolution stimmten, die gesamte Partei, die sie nachträglich als für sich bindend anerkannte, der Vorbereitung, Anstiftung, Aufforderung zum Landesverrat strafbar gemacht. Und doch wagten die Staatsanwälte nicht im Traume daran zu denken, die Sozialdemokratie wegen ihrer Beschlüsse zu behelligen. Bis zum 4. August 1914 galt es für Freund und Feind als selbstverständlich, daß die Sozialdemokratie mit allen Kräften sich dem Kriege widersetzen, sich seiner Fortsetzung unerbittlich entgegenstemmen werde. Heute wird Liebknecht für die Erfüllung dieser selbstverständlichen Pflicht ins Zuchthaus gesteckt. Weshalb? Einzig und allein, weil die offizielle Sozialdemokratie den revolutionären Klassenkampf preisgegeben, weil sie sich aus einer Partei des Internationalen proletarischen Klassenkampfes in eine Regierungspartei, in einen Fußschemel der imperialistischen Klassenherrschaft verwandelt hat.

Liebknechts Zuchthausurteil ist also ein Kainszeichen auf der Stirn der offiziellen deutschen Sozialdemokratie, ein Siegel ihres Verrates an den Pflichten des Internationalen Sozialismus und den historischen Aufgaben des Proletariats.

Als Opfer des Bankrotts der Sozialdemokratie im Kriege verkörpert Liebknecht in seinem persönlichen Schicksale die Geschicke des deutschen Proletariats als Klasse und nimmt sie mit in seine Zuchthauszelle. Liebknechts „Landesverrat” besteht darin, daß er um den Frieden kämpfte. Aber die ganzen weiteren Schicksale des deutschen und des Internationalen Sozialismus hängen davon ab, ob das Proletariat verstehen wird, den Frieden zu erkämpfen und zu diktieren.

Der Sozialismus hat sich beim Ausbruch des Weltkrieges als Faktor der Geschichte ausgeschaltet. Der Krieg brachte deshalb eine ungeheure Stärkung der kapitalistischen Klassenherrschaft, der politischen und sozialen Reaktion und des Militarismus mit sich. Was nach dem Kriege sein wird, welche Zustände und welche Rolle die Arbeiterklasse erwarten, das hängt ganz davon ab, in welcher Weise der Friede zustande kommt. Erfolgt er bloß aus schließlicher allseitiger Erschöpfung der Militärmächte oder gar – was das Schlimmste wäre – durch den militärischen Sieg einer der kämpfenden Parteien, erfolgt er mit einem Wort ohne Zutun des Proletariats, bei völliger Ruhe im Innern des Staates, dann bedeutet ein solcher Friede nur die Besiegelung der weltgeschichtlichen Niederlage des Sozialismus im Kriege. Die radikalsten Parteitags- und Kongreßresolutionen können nachträglich nicht ersetzen, was an Taten und Handlungen zur rechten Stunde gefehlt hat. Dann bleibt der Imperialismus auch nach

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