Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 75

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Vorgänge und Verlagerungen die ganze Zeit über mit klarem Auge zu erfassen bestrebt und fähig war, so war es die deutsche Sozialdemokratie.

Zwei Linien der Entwicklung in der jüngsten Geschichte führen schnurgerade zu dem heutigen Kriege. Eine leitet noch von der Periode der Konstituierung der sogenannten Nationalstaaten, d. h. der modernen kapitalistischen Staaten, vom Bismarckschen Kriege gegen Frankreich her. Der Krieg von 1870, der durch die Annexion Elsaß-Lothringens die französische Republik in die Arme Rußlands geworfen, die Spaltung Europas in zwei feindliche Lager und die Ära des wahnwitzigen Wettrüstens eröffnet hat, schleppte den ersten Zündstoff zum heutigen Weltbrande herbei. Noch während Bismarcks Truppen in Frankreich standen, schrieb Marx an den Braunschweiger Ausschuß:

„Wer nicht ganz vom Geschrei des Augenblicks übertäubt ist oder ein Interesse hat, das deutsche Volk zu übertäuben, muß einsehen, daß der Krieg von 1870 ganz so notwendig einen Krieg zwischen Deutschland und Rußland im Schoße trägt wie der Krieg von 1866 den Krieg von 1870. Ich sage notwendig, unvermeidlich, außer im unwahrscheinlichen Falle eines vorherigen Ausbruchs einer Revolution in Rußland. Tritt dieser unwahrscheinliche Fall nicht ein, so muß der Krieg zwischen Deutschland und Rußland schon jetzt als un fait accompli (eine vollendete Tatsache) behandelt werden. Es hängt ganz vom jetzigen Verhalten der deutschen Sieger ab, ob dieser Krieg nützlich oder schädlich. Nehmen sie Elsaß und Lothringen, so wird Frankreich mit Rußland Deutschland bekriegen. Es ist überflüssig, die unheilvollen Folgen zu deuten.”[1]

Diese Prophezeiung wurde damals verlacht; man hielt das Band, das Preußen mit Rußland verknüpfte, für so stark, daß es als Wahnsinn galt, auch nur daran zu denken, das autokratische Rußland könnte sich mit dem republikanischen Frankreich verbünden. Die Vertreter dieser Auffassung wurden als reine Tollhäusler hingestellt. Und doch ist alles, was Marx vorausgesagt hat, bis zum letzten Buchstaben eingetroffen. ,,… das ist eben”, sagt Auer in seiner „Sedanfeier”, „sozialdemokratische Politik, die klar sieht, was ist, und sich darin von jener Alltagspolitik unterscheidet, welche blind vor jedem Erfolg sich auf den Bauch wirft.”[2]

Allerdings darf der Zusammenhang nicht in der Weise aufgefaßt werden, als ob die seit 1870 fällige Vergeltung für den Bismarckschen Raub

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[1] Brief Karl Marx’ vom 1. September 1870 an den Braunschweiger Ausschuß. In: W. Bracke jr.: Der Braunschweiger Ausschuß der sozialdemokratischen Arbeiter-Partei in Lötzen und vor dem Gericht, Braunschweig 1872, S. 9.

[2] I[gnaz] Auer: Sedanfeier und Sozialdemokratie. Rede, gehalten in einer Versammlung zu Berlin am 4. September 1895. S. 9.