Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 76

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nunmehr Frankreich wie ein unabwendbares Schicksal zur Kraftprobe mit dem Deutschen Reich getrieben hätte, als ob der heutige Weltkrieg in seinem Kern die viel verschriene „Revanche” für Elsaß-Lothringen wäre. Dies die bequeme nationalistische Legende der deutschen Kriegshetzer, die von dem finsteren, rachebrütenden Frankreich fabeln, das seine Niederlage „nicht vergessen konnte”, wie die Bismarckschen Preßtrabanten im Jahre 1866 von der entthronten Prinzessin Österreich fabelten, die ihren ehemaligen Vorrang vor dem reizenden Aschenbrödel Preußen „nicht vergessen konnte”. In Wirklichkeit war die Rache für Elsaß-Lothringen nur noch theatralisches Requisit einiger patriotischer Hanswurste, der „Lion de Belfort” ein altes Wappentier geworden.

In der Politik Frankreichs war die Annexion längst überwunden, von neuen Sorgen überholt, und weder die Regierung noch irgendeine ernste Partei in Frankreich dachten an einen Krieg mit Deutschland wegen der Reichslande. Wenn das Bismarcksche Vermächtnis das erste Scheit zu dem heutigen Weltbrand wurde, so vielmehr in dem Sinne, daß es einerseits Deutschland wie Frankreich und damit ganz Europa auf die abschüssige Bahn des militärischen Wettrüstens gestoßen, andererseits das Bündnis Frankreichs mit Rußland und Deutschlands mit Österreich als unabwendbare Konsequenz herbeigeführt hat. Damit war dort eine außerordentliche Stärkung des russischen Zarismus als Machtfaktor der europäischen Politik gegeben – begann doch gerade seitdem das systematische Wettkriechen zwischen Preußen-Deutschland und der französischen Republik um die Gunst Rußlands –, hier war die politische Zusammenkoppelung des Deutschen Reiches mit Österreich-Ungarn bewirkt, dessen Krönung, wie die angeführten Worte des deutschen Weißbuchs zeigen, die „Waffenbrüderschaft” im heutigen Krieg ist.

So hat der Krieg von 1870 in seinem Gefolge die äußere politische Gruppierung Europas um die Achse des deutsch-französischen Gegensatzes wie die formale Herrschaft des Militarismus im Leben der europäischen Völker eingeleitet. Diese Herrschaft und jene Gruppierung hat die geschichtliche Entwicklung aber seitdem mit einem ganz neuen Inhalt gefüllt. Die zweite Linie, die im heutigen Weltkrieg mündet und die Marxens Prophezeiung so glänzend bestätigt, führt von Vorgängen Internationaler Natur her, die Marx nicht mehr erlebt hat: von der imperialistischen Entwicklung der letzten 25 Jahre.

Der kapitalistische Aufschwung, der nach der Kriegsperiode der sechziger und siebziger Jahre in dem neukonstituierten Europa Platz gegriffen und der namentlich nach Überwindung der langen Depression, die dem

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