Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 77

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Gründerfieber und dem Krach des Jahres 1873 gefolgt war, in der Hochkonjunktur der neunziger Jahre einen nie dagewesenen Höhepunkt erreicht hatte, eröffnete bekanntlich eine neue Sturm-und-Drangperiode der europäischen Staaten: ihre Expansion um die Wette nach den nichtkapitalistischen Ländern und Zonen der Welt. Schon seit den achtziger Jahren macht sich ein neuer, besonders energischer Drang nach Kolonialeroberungen geltend. England bemächtigt sich Ägyptens und schafft sich in Südafrika ein gewaltiges Kolonialreich, Frankreich besetzt Tunis in Nordafrika und Tonking in Ostasien, Italien faßt Fuß in Abessinien, Rußland bringt in Zentralasien seine Eroberungen zum Abschluß und dringt in der Mandschurei vor, Deutschland erwirbt in Afrika und der Südsee die ersten Kolonien, endlich treten auch die Vereinigten Staaten in den Reigen und erwerben mit den Philippinen „Interessen” in Ostasien. Diese Periode der fieberhaften Zerpflückung Afrikas und Asiens, die, von dem chinesisch-japanischen Krieg im Jahre 1895[1] an, fast eine ununterbrochene Kette blutiger Kriege entfesselte, gipfelt in dem großen Chinafeldzug[2] und schließt mit dem Russisch-Japanischen Kriege des Jahres 1904[3] ab.

Alle diese Schlag auf Schlag erfolgten Vorgänge schufen neue außereuropäische Gegensätze nach allen Seiten: zwischen Italien und Frankreich in Nordafrika, zwischen Frankreich und England in Ägypten, zwischen England und Rußland in Zentralasien, zwischen Rußland und Japan in Ostasien, zwischen Japan und England in China, zwischen den Vereinigten Staaten und Japan im Stillen Ozean – ein bewegliches Meer, ein Hin- und Herwogen von scharfen Gegensätzen und vorübergehenden Allianzen, von Spannungen und Entspannungen, bei denen alle paar Jahre ein partieller Krieg zwischen den europäischen Mächten auszubrechen drohte, aber immer wieder hinausgeschoben wurde. Es war daraus für jedermann klar: 1. daß der heimliche, im stillen arbeitende Krieg aller kapitalistischen Staaten gegen alle auf dem Rücken asiatischer und afrikanischer Völker früher oder später zu einer Generalabrechnung führen, daß der in

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[1] Der chinesisch-japanische Krieg um die Vorherrschaft in Korea, der am 1. August 1894 mit der Kriegserklärung Japans an China begonnen hatte, wurde am 17. April 1895 mit dem Frieden von Shimonoseki zugunsten Japans beendet. China wurde gezwungen, die Gebietsforderungen Japans anzuerkennen. Damit begann die Phase der Aufteilung Chinas in Einflußsphären der imperialistischen Mächte.

[2] 1899 war in Nordchina der antiimperialistische Volksaufstand der Ihotuan ausgebrochen, der 1900 durch die vereinigten Armeen von acht imperialistischen Staaten unter Führung des deutschen Generals Alfred Graf von Waldersee grausam niedergeworfen wurde. In einem Abschlußprotokoll von 1901 wurde China u. a. gezwungen, etwa 1,4 Millionen Mark Kontributionen zu zahlen und der Errichtung von Stützpunkten für die Interventionsarmeen zuzustimmen.

[3] Der Russisch Japanische Krieg, der vom Februar 1904 bis September 1905 um die Vorherrschaft über Gebiete Chinas geführt wurde, endete mit einer Niederlage Rußlands.