Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 35

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lisierten Bürokratie und einer festen Zollgrenze. Zunächst verstärkte er die Macht der staatlichen Zentralgewalt, die eine absolute wurde. Aber die Entwicklung des Verkehrs und der Presse ermöglichte es immer mehr der Bevölkerung des ganzen Staates, Taten und Unterlassungen der Zentralgewalt kennenzulernen, sie zu diskutieren, zu kritisieren. Dieses Gehaben der Zentralgewalt wurde zugleich immer wichtiger für jeden einzelnen, das Bereich der Staatsgewalt wuchs. Daher erstand der Drang, auf sie Einfluß zu nehmen durch ein System von Repräsentanten, Vertretern, die von der Masse gewählt und kontrolliert werden. So entwickelte sich die moderne Demokratie, deren wesentlichste Merkmale der Parlamentarismus, die Presse und große, das ganze Bereich des Staates umfassende Parteiorganisationen bilden.” (S. 8.) [Hervorhebung – R. L.]

Wir haben dieses Prachtstück der materialistischen Auffassung im Wortlaut hierher gesetzt, damit der Leser sieht, wie hübsch man die Entstehung des bürgerlichen „Rechtsstaates” ohne den weitläufigen Apparat von Klasseninteressen, ökonomischen Umwälzungen usw. aus der Entwicklung „des Verkehrs und der Presse” erklären kann. „Die moderne Demokratie” erscheint auf diese Weise, ganz wie ihre würdige Ergänzung, der Nationalstaat, nicht als prosaisches Stück bürgerlicher Klassenherrschaft mit allen Schlacken ihres irdisch beschränkten Daseins und mit deutlichen Spuren des Verfalls, sondern im blauschimmernden Duft der Abstraktion und in das dauerhafte Dasein eines Ideals gehüllt. Wir leben ja, wie Kautsky an einer anderen Stelle (S. 77) sagt, „im Zeitalter der wachsenden Demokratie”. Freilich, ein Ideal wird diese unsere „moderne Demokratie” erst, wenn wir den reinen Nationalstaat bekommen. So könnte „die volle Demokratie” in Deutschland „mit seinen Polen, Dänen, Franzosen” gar nicht verwirklicht werden, denn „ein polnischer Politiker oder eine polnische Zeitschrift oder ein polnisches Buch mögen noch so eindringlich, überzeugend und bedeutend zu uns in ihrer Sprache sprechen, sie werden vielleicht auf Polen auch außerhalb Deutschlands wirken, nie auf das deutsche Volk. Im Wirken auf das Volk und durch das Volk besteht jedoch das Wesen der Demokratie.” (S. 9.) Und deshalb erst „innerhalb jedes solcher Nationalstaaten (in die die heutigen Großstaaten zerfallen müssen – R. L.) ist dann volle, nicht bloß formelle, sondern wirkliche und wirksame Demokratie möglich.” (S. 11.) [Hervorhebung – R. L.] Hast du nun Worte, lieber Leser?

Aber das holde Zwillingspaar hat auch noch ein kleines Schwesterchen, von dem es unzertrennlich ist. Die Miliz I „Der Nationalstaat … setzt jeder Minderung oder Änderung seines Gebiets durch eine fremde er-

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