Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 36

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obernde Macht den energischsten, dauernd kaum überwindlichen Widerstand in dem starken demokratischen Leben seiner Bewohner entgegen; anderseits findet dieser Staat in dem Umfang des zusammenhängenden Gebiets der Nation seine Grenze, die er ohne Schädigung seiner selbst nicht überschreiten kann. Alles das bewirkt, daß für seine Existenz die Kraft seiner Demokratie wichtiger wird als die Kraft seiner Armeen, die für einen geschlossenen Nationalstaat, wenn er ein solcher bleiben will (dies „wenn” ist gottvoll! – R. L.), rein defensiven Charakter bekommen. Gleichzeitig mit der Idee der modernen Demokratie und des Nationalstaates (bei Kautsky steht hier, was ein augenscheinlicher Druckfehler: Nationalitätenstaates – R. L.) erwächst die Idee der Milizarmee. Sie werden alle drei von den gleichen Parteien und Volksklassen getragen.” (S. 16/17.) Kautsky selbst gehört übrigens zu diesen Parteien und Volksklassen nicht, denn einige Seiten später, als es gilt, das Friedensprogramm der Sozialdemokratie aufzustellen, vergißt er seine Miliz ganz und gar und fordert – die „Abrüstung” auf die Hälfte des heutigen Bestandes der stehenden Armeen.

Und nochmals, lieber Leser, hast du Worte? Es fragt sich: Wo sind oder waren denn all die hübschen Sachen, die Kautsky uns da vormalt, auf Erden zu sehen? Ist etwa Deutschland seit 1870 oder Italien jener „Nationalstaat” mit defensiver Milizarmee und wachsender Demokratie? Ist der demokratischste Staat Europas und derjenige, der sich der Miliz am meisten nähert: die Schweiz, ein Nationalstaat? Ist der demokratischste außereuropäische Staat, die Vereinigten Staaten von Amerika, ein Nationalstaat? Es fragt sich: Hat Marx nicht etwa „auf das Volk und durch das Volk” in zahllosen Ländern gewirkt, obwohl er nur „in seiner Sprache” sprach? Es fragt sich endlich: Hat die Sozialdemokratie nicht stets behauptet, daß „volle, nicht bloß formelle, sondern wirkliche und wirksame Demokratie” erst dann denkbar ist, wenn ökonomische und soziale Gleichheit, d. h. sozialistische Wirtschaftsordnung, verwirklicht, daß die „Demokratie” des bürgerlichen Nationalstaates hingegen in letzter Linie stets mehr oder weniger Humbug ist?

Doch lassen wir jetzt den Nationalstaat und die Demokratie mitsamt der Miliz, von denen man die ganze Zeit nicht weiß, ob Kautsky sie als existierende historische Verhältnisse konterfeit oder als rosige Wolken seiner Phantasie. Sie sind jedenfalls nur Vorbereitung zur entsprechenden Behandlung des Imperialismus.

Was ist Imperialismus? Imperialismus – das ist bloß eine garstige „Methode”. Das ist eine Methode, mit Gewalt und ähnlichen häßlichen

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